Der jüngste Friedensprozess in der kurdischen Frage begann, als Devlet Bahçeli, Vorsitzender der rechtsradikalen MHP, bei der Eröffnung des Parlaments am 1. Oktober zu den Sitzbänken der kurdischen DEM-Partei ging und dem Vorsitzenden sowie den Funktionären der Partei die Hand schüttelte. Es folgte ein Aufruf Bahçelis an PKK-Anführer Abdullah Öcalan. In seinem Aufruf, in dem er auch das „Recht auf Hoffnung“ erwähnte, forderte Bahçeli Öcalan auf, ins Parlament zu kommen und die Waffenniederlegung und Selbstauflösung der PKK zu verkünden.
Bahçeli blieb beharrlich bei seinem Aufruf und wich nur in kleinen Schritten davon ab, während er ihn in jeder seiner Fraktionsreden wiederholte. Dennoch hielt er an der Grundidee und dem Kern seines Appells fest. Er betonte die Notwendigkeit der „nationalen Einheit und Brüderlichkeit“, sprach von „1000 Jahren Brüderlichkeit“ und erklärte, der Weg dorthin liege darin, dass die PKK sich selbst auflöse, ihre Führer und Kämpfer die Waffen niederlegten und sich „der türkischen Justiz stellten, um auf das Urteil zu warten, das über sie ergehen würde“. Mit den Worten „Mit Terror kann man nicht verhandeln“ schloss er weitere Diskussionen aus. Es werde keine Verhandlungen geben; die PKK müsse sich ergeben, andernfalls werde Gewalt angewendet.
Lange Zeit wurde insbesondere in bürgerlichen Oppositionskreisen behauptet, Bahçeli habe ohne Recep Tayyip Erdoğans Wissen einen „Vorstoß“ eingeleitet und Erdoğan vertrete eine andere Meinung. Als Beweis führten sie an, dass Erdoğan nicht selbst sprach, sondern nur Bahçeli Erklärungen abgab. Doch Erdoğans Schweigen zu Beginn des Prozesses war kein Zeichen von Meinungsverschiedenheit oder unterschiedlichen Ansätzen, sondern resultierte aus der Aufgabenteilung innerhalb der Regierung und der Notwendigkeit, angesichts möglicher negativer Entwicklungen die Kontrolle zu behalten, da er offiziell die Entscheidungsbefugnis innehat.
Bereits vor Bahçelis Aufruf hatte Erdoğan am 30. August betont, dass „wir unsere innere Front intakt halten müssen“ und „unsere innere Front stärken müssen, während die Karten im Nahen Osten mit Blut neu gezeichnet werden und Israel den Krieg in den Libanon trägt“. Bahçelis Aufruf war somit ein Versuch, „die innere Front zu stärken“. Doch oppositionelle Medien spekulierten wiederholt über eine mögliche Spaltung zwischen Erdoğan und Bahçeli und einen Bruch in der „Volksallianz“. Diese Erwartungen wurden jedoch durch Erdoğans Äußerung im Oktober desselben Jahres entkräftet:
„Wir hoffen, dass die historische Chance, die die Volksallianz eröffnet hat, nicht dem persönlichen Kalkül geopfert wird. Als politische Institution, als Parlament, als Zivilgesellschaft, als Presse, als Wissenschaft und als Nation insgesamt wollen wir gemeinsam eine Türkei ohne Terrorismus und Gewalt aufbauen.“
Erdoğans erste umfassende Erklärung erfolgte Anfang Januar auf dem AKP-Parteitag in Diyarbakır:
„Die jüngsten Aktivitäten haben ein einziges Ziel: die Selbstauflösung der Terrororganisation, die bedingungslose Übergabe ihrer Waffen, die vollständige Beseitigung der Einflussnahme der Organisation auf die Politik, der politischen Struktur (gemeint sind kurdische Parteistrukturen, wie DEM, Anm. der Übersetzung), die aufgrund des Drucks der separatistischen Organisation [offizielle türkische Terminologie für die PKK, Anm. d. Verf.] nicht die Qualifikation als Partei der gesamten Türkei erlangen kann, die Möglichkeit zu geben, sich in diese Richtung zu entwickeln und die Stärkung unserer inneren Front angesichts der zunehmenden Konflikte in der Region.“ Seine Rede auf einem späteren Parteitag in Mersin beendete schließlich die Spekulationen über einen „Riss in der Volksallianz“: „Die Entwicklungen, die mit der Agenda unseres Partners der Volksallianz, Herrn Bahçeli, begonnen haben, nähern sich ihrem Endstadium. Die Geißel des separatistischen Terrorismus wird beseitigt werden.“
Bahçelis beharrliche Aufrufe in Abstimmung mit Erdoğan blieben nicht ohne Wirkung. Die kurdische Nationalbewegung, einschließlich der DEM-Partei, Öcalan und der PKK, nahm den Aufruf ernst und sah darin eine Chance.
Eine unterschiedlich aufgefasste Einigung
Zweifellos haben die DEM-Partei, Öcalan und die PKK – oder allgemeiner die kurdische Nationalbewegung – sowie die „Volks“-Parteien AKP und MHP unter Erdoğan und Bahçeli, trotz ihres gemeinsamen nationalistischen Nenners, gegensätzliche Positionen, Ansichten und Tendenzen. Sie repräsentieren unterdrückte bzw. unterdrückende Nationen und sind Parteien eines seit Jahrzehnten andauernden Konflikts. Es war daher nicht selbstverständlich, dass die kurdische Nationalbewegung und ihre Sprecher den Aufruf im gleichen Sinne wie Erdoğan und Bahçeli verstanden. Und so war es auch: In fast allen Fragen gingen die Meinungen auseinander.
Der Prozess wurde zwar als solcher bezeichnet, doch selbst ein gemeinsamer Name fehlte. Lange blieb er namenlos oder wurde schlicht „Prozess“ genannt. Für Bahçeli und Erdoğan war es die „Türkei ohne Terror“, für die kurdische Nationalbewegung hingegen ein Prozess des „Friedens“ und der „Demokratisierung“. Öcalans Aufruf zur „Auflösung“ vom 27. Februar trug sogar den Titel „Frieden und demokratische Gesellschaft“. Während Bahçeli, Erdoğan und die Palastregierung, die die nationale Existenz und die Rechte der Kurden nicht anerkennen, die Unterwerfung der kurdischen Nationalbewegung fordern, strebt diese die Gleichheit der nationalen Rechte an.
Der Aufruf als Reaktion auf die Probleme der Regierung
Woher rührt die Notwendigkeit dieses „Prozesses“, der zur Stärkung der inneren Front initiiert wurde? Es ist offensichtlich, dass Erdoğan und die Palastregierung, die in Koalition mit Bahçeli und seiner Partei regiert, sowohl innenpolitisch als auch international, insbesondere in der Region [„bölge“, hier als „Region“ übersetzt, ist eine gängige Bezeichnung für die kurdischen Gebiete, Anm. d. Verf.], mit erheblichen Schwierigkeiten und Dilemmata konfrontiert sind.
Das Land steht still
Diese Zwänge erstrecken sich auf wirtschaftliche, finanzielle und politische Bereiche. Die türkische Wirtschaft befindet sich zwar nicht in einer Krise, doch ihr Wachstum bleibt unstet, mit Höhen und Tiefen, einschließlich zweier aufeinanderfolgender Quartale mit negativem Wachstum der Industrieproduktion. Der Kapitalbedarf für Investitionen ist gestiegen, und der Zugang zu Auslandsschulden sowie in- und ausländischen Krediten ist schwieriger geworden. Die unter Finanzminister Mehmet Şimşek eingeleitete Zinserhöhung nach dem Scheitern der Niedrigzinspolitik musste im Laufe der letzten Überprüfungen zugunsten von Zinssenkungen zur Belebung der Investitionen wieder aufgegeben werden – doch diese Politik ließ sich nicht fortführen. Trotz drastischer Kürzungen der öffentlichen Ausgaben und Maßnahmen zur Stabilisierung der Devisenpreise belasten Korruption und exzessiver Luxus, insbesondere in den Palästen, die Wirtschaft. Die Inflation ist zwar leicht zurückgegangen, liegt aber auf demselben Niveau wie zu Beginn von Şimşeks Amtszeit als er eine straffe Sparpolitik gegenüber den unteren Schichten der Gesellschaft zu verfolgen begann.
Gleichzeitig profitieren Großunternehmen weiterhin von Steuersenkungen und -nachlässen, während die Einkommensschere zwischen Arm und Reich wächst. Dennoch kann der Abfluss von Kapital, sowohl ausländischem als auch inländischem, nicht gestoppt werden. Obwohl noch keine Schuldenkrise ausgebrochen ist, wird die Umschuldung immer schwieriger und teurer. Neben den Neuinvestitionen steigen auch die Zinsen für die neuen Kredite, die zur Tilgung der Altschulden aufgenommen werden können, täglich an. Auch wenn man nicht von einer Finanzkrise sprechen kann, so häufen sich doch allmählich deren Elemente. Ähnlich verhält es sich mit den Devisen und den Devisenreserven der Zentralbank. Zwar gibt es noch keine Währungskrise, doch die Devisen- und Goldpreise steigen unaufhaltsam weiter.
Die Türkei gehört zu den Ländern mit den höchsten Lebenshaltungskosten. Selbst Grundnahrungsmittel wie Fleisch, Milch, Käse und Eier sind in İstanbul teurer als in London oder Zürich, teilweise fast doppelt so teuer. Die auf billige Arbeitskräfte und Exporte ausgerichtete Wirtschaftspolitik hat zu einem deutlichen Rückgang des Anteils der Arbeiter am Gesamteinkommen geführt. Die Inflation, die durch die angeblich rationalisierte Finanzpolitik Erdoǧans nur verschärft wurde, führte zu einem Absinken der Reallöhne. Innerhalb von drei Jahren ist der Anteil der Arbeit am BIP um 5 Prozentpunkte gesunken und der Mindestlohn, der inzwischen zum Durchschnittslohn geworden ist, liegt unterhalb der Hungergrenze. Arbeitskämpfe konnten nur durch harte Streiks, von denen viele verboten und von Polizei und Gendarmerie angegriffen wurden, stattfinden.
Die Durchschnittsrenten sind noch schlechter. Die Mindestrente, die im Januar 2025 von 12.500 TL auf 14.469 TL erhöht wurde, ist das Einkommen der meisten Rentner und reicht nicht einmal für die Befriedigung der elementarsten Bedürfnisse. In İstanbul z.B. beginnen die niedrigsten Mieten ab 20.000 TL. Abgesehen von den großen Landwirtschaftsbetrieben können Kleinbauern den landwirtschaftlichen Betrieb aus Kostengründen kaum aufrecht erhalten.
Während die Banken und Monopole Rekordgewinne einfahren, ist inzwischen der breiten Masse bewusst geworden, dass Erdoğans Behauptung der „fehlenden Ressourcen“ eine bewusste Täuschung darstellt. Die finanziellen Mittel, die den Arbeitern und Rentnern selbst für inflationsausgleichende Erhöhungen vorenthalten werden, fließen stattdessen in Form von Steuererleichterungen, -nachlässen, Subventionen und staatlichen Garantien an die Großunternehmer – insbesondere an jene Konsortien, die im Rahmen des „Build-Operate-Transfer“-Modells Autobahnbrücken, Flughäfen und andere Megaprojekte betreiben. Diese unverhohlene Umverteilungspolitik von unten nach oben hat dazu geführt, dass die Erdoğan-Regierung ins Fadenkreuz der ausgebeuteten Bevölkerung geraten ist, deren Unmut und Protestbereitschaft einen historischen Höhepunkt erreicht haben. Die Umfragewerte der regierenden Volksallianz befinden sich im freien Fall, und sämtliche Meinungsforschungsergebnisse bestätigen diesen Trend.
Die wachsende Empörung über die Palastregierung, die sich besonders nach der Aberkennung des Hochschuldiploms vom İstanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu und dessen anschließender Verhaftung entlud, konnte nicht verhindern, dass sich der Widerstandswille quer durch alle sozialen Schichten ausbreitete. Nur noch eine schrumpfende Minderheit – bestehend aus den direkten Nutznießern des Systems, seinen Profiteuren und ideologischen Hardlinern – verbleibt in der Gefolgschaft des Regimes. Die Ursachen dieser Massenunzufriedenheit liegen nicht allein in der dramatischen Verschlechterung der ökonomischen Lage, deren Last vollständig der Bevölkerung aufgebürdet wird. Entscheidend ist vielmehr der autoritäre Regierungsstil, der jeden Protest zunächst ignoriert und dann brutal unterdrückt: Arbeitsniederlegungen werden verboten, Demonstrationen gewaltsam aufgelöst, selbst bescheidene Forderungen nach sozialen Rechten mit polizeistaatlichen Methoden bekämpft. Die systematische Aushöhlung grundlegender Freiheiten – Koalitionsfreiheit, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit – erreicht groteske Ausmaße, wenn bereits ein kritischer Tweet als „Beleidigung des Präsidenten“ strafrechtlich verfolgt wird. Die gleichgültige Reaktion auf Katastrophen wie die Erdbeben, Waldbrände oder die verheerenden Arbeitsmorde (wie jüngst in der Goldmine von İliç) haben ein politisches Klima geschaffen, das die Protestbereitschaft weiter anheizt.
Diese soziale Unruhe, die ihren symbolischen Ausdruck in den Massenprotesten auf dem Saraçhane-Platz fand, hat zu einer landesweiten sozialen Oppositionsbewegung geführt, die mittlerweile fast alle urbanen Zentren erfasst hat. Diese Entwicklung wird zweifellos von Erdoğan, seinem Beraterzirkel und seinem Koalitionspartner Bahçeli mit größter Besorgnis verfolgt. Denn erstmals seit über zwanzig Jahren sieht sich die auf der Erdoğan-Bahçeli-Allianz basierende Palastregierung durch das Erstarken einer entschlossenen bürgerlichen Opposition in ihrer Existenz bedroht.
Als einziges Mittel zur Überwindung der Schwierigkeiten, mit denen sie konfrontiert war, sowie zur Aufrechterhaltung ihrer Macht setzte die Palastregierung zunehmend auf politische Zentralisierung und Autoritarismus. Dieser Weg war begleitet von einer wachsenden Zahl an Verboten und tyrannischen Maßnahmen – Ausdruck der Interessen der Monopole, die es angesichts sich verschärfender nationaler und internationaler Bedingungen für notwendig halten, schnelle Entscheidungen in Wirtschafts- und Machtfragen zu ihren Gunsten zu treffen. In diesem Kontext strebte die Palastregierung den Aufbau einer faschistischen Diktatur an.
Die Institutionalisierung des Faschismus zielt in erster Linie auf die Unterdrückung der Volksmassen und der gesellschaftlichen Opposition, insbesondere der Arbeiterklasse. Darüber hinaus umfasst sie die Verschmelzung von Partei und Staat in der Person eines einzelnen Führers sowie die Etablierung einer Einparteiendiktatur. Sie richtet sich ebenso gegen die bürgerliche Opposition, sofern diese versucht, über die Rolle einer „Opposition von Seiner Majestäts Gnaden“ hinauszugehen. Im Rahmen der Machtstrategie, den Staat durch Faschisierung zu kontrollieren, ist kein Platz für eine bürgerliche Opposition, die als tatsächliche Machtalternative auftreten will.
Die Republikanische Volkspartei (CHP), die eine solche Alternative zu entwickeln versucht, ist daher ins Visier der Palastregierung geraten. Der autoritäre Prozess begann mit der Einsetzung von Zwangsverwaltern in kommunalen Verwaltungen und setzte sich mit der Verhaftung des CHP-Präsidentschaftskandidaten Ekrem İmamoğlu fort, dem laut Umfragen ein Wahlsieg gegen Erdoğan vorausgesagt wurde. Ziel dieser Maßnahmen, die über die Justiz abgewickelt werden, ist es, durch Treuhänder wirtschaftliche Ressourcen umzulenken und zugleich die CHP – insbesondere nach ihrer Parteitagsdebatte über Korruption – auf die Linie einer „fügsamen Opposition“ zu bringen.
Dieses Kalkül ist zumindest vorläufig gescheitert. Die CHP, durch die Repressionen an den Rand ihrer Existenz gedrängt, sah sich gezwungen, sich mit der sozialen Opposition zu verbünden. Dabei versucht sie zwar, diese zu kontrollieren, trägt jedoch zu einer Radikalisierung bei, mit der die Palastregierung nicht gerechnet hat – ein Effekt, der durch die zunehmende Stärke und Verbreitung der sozialen Bewegung weiter verstärkt wird.
Der Aufruf zur Entwaffnung und Auflösung der PKK – verbunden mit der Erwartung, dass dies als Signal für einen möglichen Schritt zur Lösung der kurdischen Frage verstanden wird – richtete sich insbesondere an die DEM-Partei, an Öcalan und die kurdische Nationalbewegung insgesamt. Diese Bewegung, deren ehemalige Ko-Vorsitzende sowie zahlreiche Funktionäre und Mitglieder bereits inhaftiert sind, wurde zuvor durch die Einsetzung von Zwangsverwaltern in von ihr verwalteten Kommunen und die Verhaftung ihrer Vertreter gewarnt, was ihr droht, sollte sie weiterhin an der Seite der Opposition kämpfen.
Gleichzeitig wurde – in der Annahme, die CHP werde ihre Opposition wie unter Kılıçdaroğlu nicht auf die Straße tragen und keine Verbindung mit der sozialen Opposition suchen – versucht, auch diese Partei durch Verhaftungen und die Drohung mit einer Zwangsverwaltung einzuschüchtern und zu disziplinieren. Ziel war es, die CHP daran zu hindern, zur echten Alternative zu Erdoğan zu werden, oder sie zumindest unter Kontrolle zu bringen. Beide Maßnahmen – gegen die kurdische Bewegung wie gegen die CHP – dienten letztlich der Absicht der Regierung, ihre Macht durch die „Stärkung der inneren Front“ abzusichern.
Die kurdische Nationalbewegung sollte davon abgehalten werden, sich weiterhin der Regierung zu widersetzen, insbesondere in Form von Bündnissen mit der CHP, die als ernsthafte Machtalternative galt. Zugleich wurde versucht, die Bewegung für eine Zusammenarbeit mit der Regierung zu gewinnen – etwa durch das Versprechen von Verhandlungen und vagen Andeutungen einer Verfassungsänderung, die Erdoğan das Recht auf eine Präsidentschaft auf Lebenszeit sichern könnte. Die CHP hingegen sollte durch Druck oder Einschüchterung zu einer gefügigen, loyalen Opposition gemacht werden.
Das Ziel bestand darin, nationale Einheit und Solidarität herzustellen – allerdings nicht im Sinne gesellschaftlicher Integration, sondern durch die politische Gleichschaltung der Opposition unter der Ein-Mann-Herrschaft. Die „innere Front“ sollte durch die Unterordnung der gesamten politischen Landschaft unter die Volksallianz und die Regierung gestärkt werden. Schon wenn auch nur eine dieser beiden Säulen – kurdische Bewegung oder CHP – neutralisiert werden könnte, sollte dies ausreichen, um die Macht zu erhalten, wenn nötig auch ohne Wahlen.
Doch in diesem strategischen Kalkül gab es ein weiteres Kalkül: Die kurdische Nationalbewegung stellte für das Ein-Mann-Regime ein erhebliches Problem dar – insbesondere, seit sie sich der CHP annäherte, die nach den Kommunalwahlen 2024, bei denen sie als stärkste Partei hervorging, als aussichtsreiche Alternative zu Erdoğan galt. Dieses wachsende Bündnis wurde für die Palastregierung zu einer Frage von Sein oder Nichtsein.
In diesem Kontext wurde der Aufruf an Öcalan als möglicher „Ausweg“ gesehen – ein Angebot, unter wachsendem Druck in Form von Verhaftungen und Zwangsverwaltungsmaßnahmen die Reihen der Opposition zu verlassen oder sich zumindest neutral zu verhalten. Man spekulierte darauf, dass die kurdische Bewegung durch das Versprechen von Verhandlungen und einer möglichen Verfassungsreform zu einem neutralen oder sogar unterstützenden Verhalten bewegt werden könnte. Mit der Spaltung der Opposition, so die Hoffnung, könne das Machtprojekt der Regierung auch in unruhigem Gewässer „weitersegeln“.
Doch dieser Plan ist nicht aufgegangen. Der Palast machte die Rechnung ohne den Wirt: Die gesellschaftliche Realität wich vom politischen Plan ab. Das Volk – das in den Betrachtungen unberücksichtigt blieb – ist aufgestanden, und die soziale Opposition, die den Plan durcheinanderbrachte, rückte ins Zentrum des Geschehens.
Die CHP konnte weder durch Repression unterworfen noch durch die Drohung mit einem Zwangsverwalter an ihrer Spitze zum Schweigen gebracht werden. Der Druck auf sie hält zwar an, doch der Regierung gelingt es offenbar nicht, die CHP als politische Alternative zu beseitigen, ohne gleichzeitig auch die gesellschaftliche Opposition mit aller Härte niederschlagen zu müssen.
Am 19. März erklärte die kurdische Nationalbewegung ihr eigenes Kalkül – unabhängig von dem der Palastregierung. Wie jede politische Kraft strebt sie danach, ihren eigenen Weg zu gehen. Das Erdoğan-Bahçeli-Kalkül scheint nicht aufzugehen – auch wenn einige türkische Nationalisten, sowohl von rechts als auch von links, unmittelbar nach Bahçelis Ankündigung und in Anlehnung an das Regierungskalkül begannen, die kurdische Bewegung zu kritisieren, als ob diese sich bereits der Regierungslinie angeschlossen hätte.
Tatsächlich hatte Bahçeli – offenkundig mit Zustimmung Erdoğans und im Rahmen eines staatlich gesteuerten Dialogs mit Öcalan – die PKK dazu aufgerufen, die Waffen niederzulegen, sich aufzulösen und sich zu ergeben. In Reaktion darauf erklärte die PKK am 12. Mai, nach ihrem zweitägigen Parteitag vom 5. bis 7. Mai, das Ende ihres bewaffneten Kampfes und ihre Auflösung.
Auch wenn die Beweggründe und Rechtfertigungen auf beiden Seiten unterschiedlich sind, herrscht praktisch gesehen derzeit ein gewisser Konsens. Doch es ist offensichtlich, dass unterschiedliche Auffassungen fortbestehen und die Akteure aus unterschiedlichen Gründen zu diesem Punkt gelangt sind. Klar ist jedenfalls: Die kurdische Nationalbewegung hat kein Bündnis mit dem Erdoğan-Bahçeli-Duo geschlossen.
Erdoğan träumt bereits
Noch bevor die Waffen tatsächlich niedergelegt waren, begannen vor Erdoğans Augen bereits die Dollarzeichen zu fliegen. Die Entwaffnung war zwar noch nicht vollzogen, doch in dem Moment, in dem dies geschehen würde, sollte die Region entweder „entwickelt“ oder zum Schauplatz neuer Profite werden.
Am 14. Mai erklärte Erdoğan in seiner Fraktionsrede: „Wir werden in der vom Terror befreiten Region die Möglichkeit haben, wesentlich effektivere Dienstleistungen zu erbringen.“ Gleichzeitig rief er bereits internationale Investoren dazu auf, „in den wirtschaftlich unerschlossenen Regionen unseres Landes zu investieren – zum gegenseitigen Vorteil“, wie er betonte. Seiner Darstellung zufolge hatte „eine neue Ära begonnen“, und er zeigte sich entschlossen, die Region für den Kapitalfluss zu öffnen, da er sich davon neue, lukrative Gewinne versprach.
Erdoğan sagte weiter:
„Wir haben bereits begonnen, die Ressourcen zu mobilisieren, die aufgrund des Terrorismus bislang ungenutzt blieben. Wir werden sämtliche Bodenschätze, insbesondere das Öl, schnell unserem Volk zugänglich machen. Wir werden den Bau neuer Industrieanlagen – von der Textilindustrie bis zum Maschinenbau – fördern und unterstützen. Unsere Region, die mit ihren historischen und natürlichen Schönheiten einzigartige Reichtümer birgt, werden wir zu einem der beliebtesten Tourismusziele der Welt machen. Die fruchtbaren Böden unseres Südostens werden wir mit modernen landwirtschaftlichen Projekten – von effizienter Bewässerung bis zu hochwertigem Saatgut – erschließen, um unsere globale Führungsposition im Lebensmittelsektor weiter auszubauen.“
In derselben Rede verkündete Erdoğan zudem die „frohe Botschaft“, dass die Zwangsverwaltungspolitik bald zur Ausnahme werden solle. Stattdessen würden die Befugnisse der Gouverneure und Bezirksgouverneure gestärkt und sie zu den maßgeblichen Entscheidungsträgern der lokalen Verwaltungen gemacht. In diesem Zusammenhang hob er erneut hervor, dass die „Stärkung der inneren Front“ oberste Priorität habe.
Der zweite Grund für den Aufruf: Druck in der Region
Ein weiterer zentraler Faktor, der Bahçeli – und zweifellos auch den Staat, in dessen Namen er agiert – zu seinem Aufruf veranlasst hat, betrifft den regionalen und internationalen Kontext. Neben den innenpolitischen Motiven für die Stärkung der „inneren Front“ sind auch äußere Einflüsse ausschlaggebend.
Der türkische Staat hat im Kampf gegen die PKK im Inland erhebliche Fortschritte erzielt. Insbesondere durch den verstärkten Einsatz von Drohnen und bewaffneten Drohnen (UCAVs) wurde die Bewegungsfreiheit der PKK stark eingeschränkt – sowohl in der Türkei als auch zunehmend im Nordirak. Infolgedessen sah sich die Organisation gezwungen, sich schrittweise weiter in den Süden, in Richtung der Kandil-Berge, zurückzuziehen. Aus militärischer Sicht stellt sie keine vergleichbare Bedrohung mehr dar wie in der Vergangenheit.
Anders verhält es sich mit der PYD (Partei der Demokratischen Union) und den von ihr dominierten Syrischen Demokratischen Kräften (SDF), die sich während der Assad-Herrschaft in drei Kantonen im Norden Syriens organisierten und dort erfolgreich gegen Angriffe des IS verteidigten. Während Afrin inzwischen durch eine türkische Militäroperation eingenommen wurde, kontrollieren die SDF weiterhin Teile von Damaskus und Aleppo sowie Manbidsch. Darüber hinaus haben sie ihre Kontrolle über strategisch wichtige Energiezentren – wie den Tischrin-Staudamm östlich des Euphrats – und große Teile der Getreideanbaugebiete im Norden Syriens ausgebaut. Die SDF werden von den USA unterstützt, die in den von ihnen kontrollierten Gebieten zahlreiche Militärstützpunkte errichtet haben.
Diese Konstellation stellt für die Türkei eine doppelte Herausforderung dar: Nicht nur in Bezug auf die kurdische Präsenz innerhalb ihrer Grenzen, sondern auch angesichts der kurdischen Autonomiebestrebungen in Syrien, die von einem westlich geführten Bündnis militärisch und politisch gestützt werden. Die türkische Regierung betrachtet dieses „Kurdenproblem“ als sicherheitspolitischen Schwachpunkt – eine „Achillesferse“ – im Verhältnis zu den USA.
In diesem Zusammenhang zielt die Strategie der „Stärkung der inneren Front“ auch auf eine Stabilisierung der außenpolitischen Position ab, insbesondere gegenüber Syrien. Es lässt sich sogar argumentieren, dass dieser Aspekt des Aufrufs an Öcalan von vorrangiger Bedeutung war. Die Bemühung, die kurdische Bewegung – mit einer im Parlament vertretenen Partei und rund 10 % Wähleranteil – aus dem Lager der Opposition zu lösen, steht dabei ebenso im Zentrum wie der Versuch, ein potenzielles Bündnis mit syrischen Kurden zu verhindern. Ziel ist es, diese davon abzuhalten, als Werkzeug fremder Mächte zu agieren – und wenn möglich, sie sogar für eigene Interessen einzuspannen.
Bahçelis Aufruf an Öcalan erfolgte vor dem Hintergrund wachsender innenpolitischer Spannungen und angesichts der zunehmenden Relevanz der syrischen Kurden im geopolitischen Spiel. Während Israel seine Angriffe auf den Gazastreifen fortsetzte, Hisbollah-Ziele im Libanon angriff, iranische Positionen in Syrien ins Visier nahm und dabei rasch voranschritt, äußerte Erdoğan am 1. Oktober in seiner Rede zur Parlamentseröffnung die Befürchtung, dass nach Palästina und dem Libanon auch „die Heimat selbst“ ein Ziel Israels werden könne. Zwar war dies wohl übertrieben, doch die türkische Regierung war dennoch beunruhigt über die wachsende israelische Präsenz in Syrien – besonders im Hinblick auf deren mögliche Unterstützung für die Kurden.
Trotz dieser Spannungen handelte Ankara gegenüber Syrien in Abstimmung mit den USA. Ein möglicher Sturz Assads hätte der Türkei eine Verschnaufpause verschafft – denn eine von der HTS dominierte Nachfolgeregierung wäre Ankara eher genehm gewesen. Doch die Aussicht, dass Israel bald an den Toren von Damaskus stehen und Frankreich im Libanon und in Syrien erneut intervenieren könnte, verdeutlichte der Erdoğan-Regierung die Dringlichkeit einer Lösung der Kurdenfrage.
Bahçelis Aufruf betonte die strategische Bedeutung eines möglichen Regimewechsels in Syrien. Mit geheimdienstlichen Informationen ausgestattet, versuchte die Türkei über Bahçeli, Schritte zu unternehmen, um zu verhindern, dass die USA, Israel und Frankreich eine dauerhafte Unterstützung für die kurdische Autonomie in Syrien etablieren – eine Entwicklung, die aus türkischer Sicht eine direkte Bedrohung darstellt.
Unabhängig davon, wie sich die Lage weiterentwickelt, ist klar: Die kurdische Selbstverwaltung in Syrien stellt für Ankara ein Risiko dar, das von konkurrierenden Mächten genutzt werden kann. Der Ruf nach Öcalan war in diesem Zusammenhang nicht nur ein innenpolitisches, sondern auch ein außenpolitisch motiviertes Manöver, um die „innere Front“ zu festigen und sich gegen geopolitische Bedrohungen zu wappnen.
Imperialismus, regionale Reaktion und die unterdrückte kurdische Nation
An dieser Stelle lohnt es sich, einen Blick auf die Beziehung zwischen den imperialistischen Mächten, den regionalen Reaktionären und der kurdischen Frage zu werfen.
Die Kurden leben überwiegend im Norden Syriens entlang der Grenze zur Türkei – in Städten und Dörfern wie Afrin, Kobane, Hasakah und Qamischli – sowie in Teilen von Damaskus, Aleppo und Homs. Als Volk sind sie dort seit jeher unterdrückt: ohne rechtliche Anerkennung, ohne gleiche Rechte, ohne Identität. Ähnlich wie in anderen Staaten, in denen sie zahlenmäßig bedeutend sind, wurden sie – insbesondere unter der Herrschaft Assads und bereits davor – bis zum Jahr 2011 nicht einmal als Bürger anerkannt, geschweige denn als politisch eigenständige Einheit.
Mit dem Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs begann ihr anfänglicher Kampf um Selbstverteidigung. Als ihre organisatorischen Strukturen jedoch auf die Ebene von Kantonen wuchsen und sie sich im Widerstand gegen den IS weltweit Aufmerksamkeit und Sympathie erarbeiteten, intensivierte sich auch ihre Zusammenarbeit mit den USA. Diese leisteten Luftunterstützung, stellten Waffen und Nahrungsmittel bereit – aus temporärer Kooperation wurde schrittweise eine dauerhafte Partnerschaft. Die USA errichteten Militärstützpunkte in den von den Kurden kontrollierten Gebieten, und keine außenstehende Macht konnte diese neue Realität ignorieren: eine gut organisierte, bewaffnete Kraft mit signifikanter militärischer Schlagkraft und westlicher Unterstützung.
Doch die Beziehung zwischen den USA, Frankreich, Israel oder anderen imperialistischen bzw. regionalen reaktionären Akteuren und der kurdischen Forderung nach Gleichheit der nationalen Rechte ist im Kern opportunistisch. Diese Mächte nutzen die kurdische Frage als Druckmittel gegen die Türkei und verfolgen dabei ihre eigenen Interessen. Die kurdische nationale Existenz in Syrien besitzt für sie keinen intrinsischen Wert – ihre Bedeutung liegt allein in der Möglichkeit, sie instrumentalisieren zu können.
Einige dieser Akteure verwenden das autonome kurdische Gebiet in Rojava als Basis in Syrien, andere versuchen, die bewaffnete Kraft von geschätzt 100.000 Kämpfern – ob regulär oder als Miliz – für eigene Zwecke zu nutzen. Wieder andere bedienen sich der kurdischen Präsenz, um ein Gegengewicht zur Vorherrschaft der Türkei und der HTS (Hayat Tahrir al-Sham) in der Region zu schaffen. Die Kurden Rojavas und die PYD wiederum versuchen, mit Hilfe dieser Akteure dem Druck aus der Türkei und von HTS zu entgehen und sich vor weiteren militärischen Angriffen zu schützen.
Diese Abhängigkeit birgt jedoch ernsthafte Risiken und Dilemmata. Die Geschichte lehrt, dass das Eingehen solcher Allianzen für die Kurden immer wieder mit großen Gefahren verbunden war. Zwar kann es kurzfristig zu Erfolgen kommen, wenn sich die Interessen der Imperialisten mit denen der unterdrückten Völker – in diesem Fall der Kurden – überschneiden. Doch diese Konvergenz ist stets brüchig. Sobald sich die strategischen Interessen der Imperialisten oder ihrer regionalen Verbündeten verschieben – sei es durch globale Entwicklungen, regionale Dynamiken oder innenpolitische Veränderungen wie etwa Regierungswechsel –, sind diese Allianzen schnell wieder obsolet.
Die größte Schwäche der in Rojava als Kantone organisierten kurdischen Bewegung besteht daher darin, dass sie wesentliche Teile ihrer Zukunft auf die Unterstützung von Akteuren wie dem US-Imperialismus oder Israel setzt – Mächte, deren Haltung und Politik nicht nur volatil, sondern auch jederzeit reversibel sind. Diese können ihre Unterstützung zurückziehen oder sich sogar offen gegen sie wenden – etwa durch ein Abkommen mit der Türkei.
Beispiele aus der Geschichte bestätigen dies: Die USA ließen die Ukraine nach Jahren intensiver Unterstützung im Konflikt mit Russland abrupt im Stich. Auch der Schah des Iran entzog Kurdenführer Barzani, dem er lange militärische Stützpunkte zur Verfügung gestellt hatte, im Einvernehmen mit dem Irak plötzlich seine Unterstützung. Solche Wendepunkte zeigen, wie unsicher und bedingt diese „Hilfen“ sind.
Gleichzeitig kann auch heute nicht erwartet werden, dass die USA – die sowohl die Türkei als auch die SDF unterstützen – im Ernstfall eindeutig Partei für Letztere ergreifen würden. Vielmehr bevorzugen sie es, eine „Mitte“ zu finden, beide Seiten miteinander zu versöhnen. Die geopolitischen Optionen, die die Türkei den USA bei der Neugestaltung des Nahen Ostens bietet, sollten nicht unterschätzt werden. Donald Trump zum Beispiel versuchte offen, die Türkei und Israel unter US-Führung zu einem strategischen Block zusammenzuführen.
Sollten die USA zwischen der Türkei und den SDF wählen müssen, werden sie diese Entscheidung nicht auf Basis moralischer Prinzipien, sondern allein entlang konkreter strategischer und wirtschaftlicher Interessen treffen. Die relative Bedeutung beider Akteure wird dann gegeneinander abgewogen – mit ungewissem Ausgang für die Kurden.
Die Haltung der kurdischen Bewegung zum Aufruf
Es ist unbestreitbar, dass sowohl die kurdische Nationalbewegung – allen voran Abdullah Öcalan – als auch die türkische Palastregierung unter Erdoğan und deren Bündnispartner Bahçeli sich der Schwierigkeiten der PKK in den letzten Jahren sowie der komplexen Lage der Türkei im Kontext der Neugestaltung des Nahen Ostens bewusst sind.
Aus militärischer Sicht war der kurdischen Bewegung und Öcalan klar, dass die PKK zunehmend in die Enge gedrängt wurde: Ihre Bewegungsfreiheit war stark eingeschränkt, ihre Fähigkeit zum bewaffneten Kampf geschwächt. Zudem hatten die USA – obwohl sie im ersten „Friedensprozess“ eine Vermittlerrolle einnahmen – die PKK schon lange zuvor als „terroristische Organisation“ eingestuft und der Türkei faktisch freie Hand für militärische Operationen gelassen. Die PKK war weitgehend isoliert und verfügte außerhalb von Sulaimaniyya kaum noch über tragfähige Beziehungen oder Rückzugsräume. Vor allem Öcalan erkannte, dass für eine bewaffnete Organisation wie die PKK – in einer Region, die durch bedeutende Energie- und Transportinfrastruktur wie die neue „Entwicklungsstraße“ geopolitisch immer wichtiger wird – in der künftigen regionalen Ordnung kein Platz mehr sein würde.
Daher kam Öcalan der Aufruf Bahçelis zu einem möglichen Dialog durchaus gelegen. Dass dieser Appell ausgerechnet von der MHP kam – also jener ultranationalistischen Partei, die sich bislang vehement gegen die Anerkennung der kurdischen Frage gestellt und den ersten Friedensprozess torpediert hatte –, eröffnete für Öcalan neue Manövrieroptionen. Der Vorstoß aus dem nationalistischen Lager konnte potenziellen Widerstand innerhalb türkischer Kreise von vornherein abschwächen.
Für Öcalan war klar: Die autonome Selbstverwaltung in Rojava besaß weitaus größere strategische Bedeutung als die militärisch angeschlagene PKK. Deren Entwaffnung – oder sogar Auflösung – konnte im Sinne Rojavas politisch in Kauf genommen werden. Öcalans Kalkül (und das der breiteren kurdischen Bewegung) war, dass ein solches Zugeständnis den türkischen Druck auf die Kurden insgesamt – insbesondere auf die syrischen Kurden – verringern würde. Die PYD, eng verbunden mit der PKK im Rahmen des KCK-Systems (Union der Gemeinschaften Kurdistans), und die SDF, der militärische Arm in Syrien, könnten dadurch die Chance auf eine formale Anerkennung oder zumindest eine stabilere Position innerhalb Syriens erhalten.
Auch die internationale Reaktion deutete in diese Richtung: Der Sprecher des Nationalen Sicherheitsrats der USA, Brian Hughes, bezeichnete die Gespräche als „eine bedeutende Entwicklung“ und äußerte die Hoffnung, dass dies dazu beitragen könne, die türkischen Bedenken gegenüber den amerikanischen Partnern im Kampf gegen den IS in Nordostsyrien zu zerstreuen.
Gleichzeitig bestand innerhalb der kurdischen Nationalbewegung auch ein innenpolitisches Interesse an einer Entspannung: Tausende ihrer Aktivisten und Führungspersonen aus legalen Organisationen befinden sich in Haft, viele kurdische Gemeinden stehen unter Zwangsverwaltung. Ein Rückgang der Repression – selbst, wenn nur vorübergehend – würde eine dringend benötigte Atempause schaffen. Auch wenn die Gespräche nicht zu einem nachhaltigen Frieden führen sollten, ist bereits eine vorübergehende Erleichterung von Bedeutung. Diese Entspannung brachte allerdings auch Kosten mit sich: politische Lähmung, Zurückhaltung im demokratischen Kampf und eine gewisse Verunsicherung in der Basis. Doch angesichts der Lage überwog der unmittelbare Nutzen.
Der Prozess und die Kompromisse
Offenbar hat man sich auf das Prinzip „Keine Verhandlungen!“ geeinigt. Es wird davon ausgegangen, dass der Eindruck, die Regierung würde „verhandeln“, negative Auswirkungen auf türkisch-nationalistische Kreise und die von ihnen beeinflussten Massen haben würde, was auch der kurdischen Nationalbewegung, die Fortschritte erzielen will, nicht gelegen kommen dürfte.
Wie bereits aus dem ersten „Friedensprozess“ von 2013–2015 bekannt ist – und wie der CHP Vorsitzende Özgür Özel ebenfalls betont hat –, ist davon auszugehen, dass Gespräche zwischen dem türkischen Geheimdienst MİT und möglicherweise weiteren staatlichen Akteuren mit Öcalan lange vor den öffentlichen Erklärungen von Bahçeli und Öcalan begonnen haben. Es ist anzunehmen, dass dabei ein Fahrplan sowie eine Einigung über zentrale Fragen ausgearbeitet wurden. Selbst wenn über wesentliche Punkte Einvernehmen herrscht, wird öffentlich der Eindruck vermittelt, dass keine Verhandlungen stattfinden – aus taktischen Gründen.
Dieses Image der „Nicht-Verhandlung“ dient allerdings nicht nur der Wahrung des politischen Gesichts, sondern verweist auch auf ein grundlegendes Problem: Der Anstoß kam nicht von Präsident Erdoğan, dessen Verhalten im ersten Prozess – inklusive des plötzlichen Abbruchs und der Behauptung, das „kurdische Problem sei gelöst“ – ihm in den Augen vieler Kurden Glaubwürdigkeit gekostet hat. Stattdessen kam der aktuelle Impuls von Bahçeli, dem langjährig härtesten Gegner jeder Lösung des Kurdenproblems. Dies allein genügt, um sowohl unter türkischen Nationalisten als auch unter Kurden Skepsis zu erzeugen. Es fehlt der Enthusiasmus, der den ersten Prozess – zumindest phasenweise – begleitet hatte.
Auch unter den Kurden selbst ist diesmal keine ernsthafte Mobilisierung oder Begeisterung feststellbar. Die allgemeine Wahrnehmung lautet, dass dieser „Prozess“ eher einseitig ist – etwas, das gegeben, aber nicht empfangen wurde. Als Öcalans Erklärung auf großen Kundgebungen in Diyarbakır und Van verlesen wurde, verließen die Menschen die Plätze ohne erkennbare emotionale Regung. Selbst organisierte öffentliche Versammlungen führten nicht zu einer spürbaren Veränderung in der Haltung der kurdischen Bevölkerung.
Ein zweiter Punkt, der – wie schon im ersten Friedensprozess – offenbar erneut vereinbart wurde, ist die restriktive Kommunikation: Öffentliche Bekanntmachungen erfolgen nur im Rahmen dessen, was die Regierung zulässt; Transparenz bleibt weitgehend aus. Auch wenn dies als taktisch nachvollziehbar erscheinen mag – etwa um die Gesellschaft schrittweise an Veränderungen heranzuführen – widerspricht es den Lehren, die die kurdische Bewegung aus dem ersten Prozess gezogen hat. Diese Intransparenz gibt der Regierung die Möglichkeit, ihre Zusagen ohne große politische Kosten zu brechen.
Trotzdem scheint die kurdische Nationalbewegung im Gegenzug für gewisse Zugeständnisse bereit zu sein, die Waffen niederzulegen und den Kampf um nationale Rechte und Demokratisierung künftig mit politischen Mitteln fortzusetzen. Zu diesen Zugeständnissen gehören offenbar Aufenthaltsrechte für führende PKK-Mitglieder in Drittländern, Hafterleichterungen für PKK-Gefangene, eine Verbesserung der Haftbedingungen Öcalans sowie die Aussicht auf muttersprachlichen Unterricht und einige kulturelle Freiheiten. Diese Haltung ist sowohl Öcalans Erklärung als auch den öffentlichen Äußerungen von Sprechern der DEM-Partei zu entnehmen. Die kurdische Bewegung verknüpft die Perspektive nationaler Gleichberechtigung mit Erfolgen im politischen Kampf innerhalb eines relativ friedlichen Umfelds. Im Zentrum ihrer kurzfristigen Strategie steht nicht zuletzt die Sicherung der Existenzbedingungen für Rojava sowie für die PYD und die SDF.
In diesem Zusammenhang wird auch der Verzicht auf vollständige Transparenz in Kauf genommen – ein Preis, der im Vergleich zur Rettung Rojavas als verkraftbar erscheint.
Gleichzeitig ist es als positiver Schritt zu werten, dass die Verhandlungen nicht ausschließlich hinter verschlossenen Türen des Palasts stattfinden, sondern unter Beteiligung parlamentarischer und oppositioneller Kräfte weitergeführt werden können. Auch wenn die Mehrheit des Parlaments der Volksallianz angehört und letztlich der Präsident entscheidenden Einfluss behält, eröffnen unterschiedliche Sichtweisen und Stimmen aus der Opposition neue Möglichkeiten für die politische Debatte rund um die kurdische Frage. Die Bestrebungen der Regierung, die Opposition an sich zu binden – etwa durch den Druck, gemeinsam eine Verfassungsänderung durchzusetzen – erhöhen zwar den innenpolitischen Druck, aber der Palast ist nicht mehr alleiniger Schiedsrichter. Die Verlagerung der Diskussion in ein parlamentarisches Umfeld kann, trotz aller Widerstände, den Handlungsspielraum erweitern und dem Prozess neue Impulse geben.
Die durch Öcalans Aufruf angedeuteten Veränderungen
Ein Artikel über den aktuellen Prozess wäre unvollständig, würde er nicht auf die Argumente eingehen, mit denen Öcalan die PKK auffordert, die Waffen niederzulegen und sich aufzulösen.
Zweifellos ist Öcalan ein geschickter Politiker, geprägt durch jahrzehntelange Kämpfe im Nahen Osten, wo er die gesamte Bandbreite politischer Tricks, Fallstricke und Machtspiele kennengelernt hat. Die ersten beiden Absätze seines Aufrufs mit dem Titel „Aufruf zum Frieden und zur demokratischen Gesellschaft“ verdeutlichen den Wandel: den Unterschied zwischen jenem Öcalan, der die PKK gründete, und dem heutigen, der zu ihrer Auflösung aufruft – und zugleich den ideologisch-politischen Wandel, den er durchlaufen hat.
Wie auch die von ihm gegründete PKK entstand Öcalans politisches Denken in einem Zeitalter, in dem viele nationale Befreiungsbewegungen vom Sozialismus inspiriert waren. Allerdings war es nicht der revolutionäre Sozialismus, sondern der mit Chruschtschow begonnene revisionistisch, reaktionäre Staatssozialismus der UdSSR – den Öcalan als „Realsozialismus“ bezeichnet – von dem die PKK stark beeinflusst wurde. Der weltweite Wandel, den Öcalan auf der Achse des „Zusammenbruchs des Realsozialismus“ verortet, führte bei ihm und der PKK zu einem tiefgreifenden ideologischen und politischen Umdenken.
Kurz zuvor noch sprach Öcalan vom Sozialismus, doch unter den sich verändernden Weltbedingungen begann er anzunehmen, dass der Marxismus an Wert verloren habe und seine Anhänger weniger würden; daraufhin ließ er sich zunehmend von Kritikern des Marxismus beeinflussen – insbesondere vom linksliberalen Wallerstein und dem Öko-Anarchisten Bookchin – und wandte sich allmählich der Kritik gegen den Marxismus und den Sozialismus zu. Zwar bezeichnet sich Öcalan weiterhin als Gegner des Kapitalismus und spricht von einem „demokratisierten Sozialismus“, doch tatsächlich hat er seine Alternative innerhalb des Kapitalismus gefunden – in dessen „Demokratisierung im Einklang mit der Natur“, in der von ihm so bezeichneten „demokratischen Moderne“. Seine neue Lösung: die „demokratische Nation“ – ein Konstrukt, das allen Platz bieten soll – in Form einer ökologisch konföderalistischen Struktur, inspiriert von Bookchin.
Die nationale Unabhängigkeit hat Öcalan somit längst zugunsten der „demokratischen Nation“, der „demokratischen Moderne“ und des „ökologischen Konföderalismus“ aufgegeben. In seinem Aufruf argumentiert er sogar, dass der moderne Kapitalismus keine klassischen nationalstaatlichen Strukturen mehr fördere. Modelle wie Nationalstaaten, Föderationen oder kulturelle Autonomien – allesamt „Ausdruck extremer nationalistischer Strömungen“ – könnten „keine Antwort auf die historische Soziologie der Gesellschaft“ sein. Anstelle nationaler Unabhängigkeit plädiert er für konföderale Strukturen innerhalb der bestehenden Staaten, also für ein Fortbestehen der Kurden in deren einheitlichen nationalstaatlichen Rahmen.
Ein weiterer Faktor für Öcalans ideologischen Wandel liegt in der gesellschaftlichen Transformation der kurdischen Bewegung selbst: Bei Gründung der PKK war der kurdische Nationalismus vor allem eine bäuerliche Bewegung, getragen von armen Bauernsöhnen, die gegen feudale Strukturen aufbegehrten. Inzwischen jedoch ist die kurdische Bewegung urban, legal und massenbasiert – organisiert in der drittstärksten Partei des Landes. Gleichzeitig hat die soziale Differenzierung im kurdischen Raum zugenommen: Städte wie Antep, Maraş, Urfa und Malatya sind industrielle Zentren mit einer großen kurdischen Arbeiterklasse. Auch in Metropolen wie İstanbul, İzmir, Adana und Mersin leben Hunderttausende kurdische Arbeiter. Das kurdische Volk ist mit dem Klassenkampf in Berührung gekommen. Doch Öcalan hat diesen Aspekt bereits bei der Vorbereitung seiner Verteidigung ausgeblendet – mit der Begründung, dass ein Klassenkampf die nationale Bewegung spalten könnte.
Öcalan führt die Entstehung der PKK auf die Leugnung der kurdischen Identität und den Entzug demokratischer Freiheiten, insbesondere der Meinungsfreiheit, zurück. Diese Bedingungen seien heute, so argumentiert er, überholt. In Wahrheit jedoch ist die Leugnung der kurdischen Identität in der Türkei keineswegs beendet – dies widerspräche der Realität. Die politische Führung um Erdoğan und Bahçeli, mit denen Öcalan über Mittelsmänner eine Einigung anstrebt, leugnet nach wie vor die Existenz einer kurdischen Nation mit eigenen Rechten, sowie die Plünderung der unterdrückten Völker und Nationen durch den Monopolkapitalismus. Wenn sie vom „kurdischen Bruder“ sprechen, meinen sie denjenigen, der sich loyal dem Staat unterordnet. Auch der zweite von Öcalan angeführte Beweis – „Fortschritte bei der Meinungsfreiheit“ – ist nicht haltbar: Allein seit dem 19. März wurden über 3.000 Menschen festgenommen, über 500 angeklagt – darunter viele Journalisten. Von Meinungsfreiheit kann unter den heutigen Bedingungen in der Türkei kaum die Rede sein.
Zwei Punkte in Öcalans Aufruf verdienen besondere Beachtung im Hinblick auf die Zukunft:
Erstens: die türkisch-kurdischen Beziehungen. Öcalan betont, dass Kurden und Türken „seit über 1.000 Jahren“ in einem Bündnis lebten, um sich gegen hegemoniale Mächte zu behaupten. Dieses Bündnis sei durch die „kapitalistische Moderne“, die er anstelle von Reaktion oder Feind verwendet, gezielt untergraben worden. Heute müsse man diese „historische Beziehung im Geiste der Brüderlichkeit neu organisieren“. Brüderlichkeit und Solidarität zwischen Kurden und Türken – auf der Grundlage der Gleichberechtigung – sind in der Tat notwendig, ja unerlässlich für den gemeinsamen Kampf – als Klasse unabhängig von ethnischer Herkunft – für Demokratie und Sozialismus. Dazu müssen sie sich in einer einzigen vereinigten Klassenpartei organisieren. Doch dieser Appell wirft auch die Frage auf: Gegen wen soll dieses Bündnis gerichtet sein?
Historische Beispiele wie die Beteiligung kurdischer Einheiten an der Seite der Seldschuken in der Schlacht von Malazgirt oder die Rolle von Idris Bitlisi auf Seiten der Osmanen gegen die Safawiden, zeigen Bündnisse mit imperialen Mächten – nicht mit den Völkern. Auch die Hamidiye-Regimenter unter Abdülhamid könnten in diesem Zusammenhang genannt werden. Gegen wen oder was werden sich die Kurden also nun mit den Türken verbünden? Bei der Formulierung als „Win-Win“-Bündnis liegt der Schwerpunkt darauf, was dieses Bündnis sowohl den Türken als auch den Kurden bringen wird. Was werden die Kurden von einem Bündnis gegen wen gewinnen – diese Frage muss beantwortet werden! Die einzige denkbare Ebene wäre eine Kooperation im Rahmen türkischer Expansionsstrategien im Nahen Osten – ein Szenario, das mehr Fragen als Antworten aufwirft.
Ein solches Bündnis darf jedenfalls nicht in einer Auslieferung der kurdischen Arbeiterklasse an die Interessen einer kurdisch-türkischen Bourgeoisie münden, die gemeinsam mit internationalen Investoren – wie von Erdoğan erhofft – die wirtschaftlich „unberührten“ Regionen des Landes ausbeuten will.
Zweitens: Öcalans Ausführungen über den Weg zur Demokratisierung. Er sagt, dass es „keinen anderen Weg als die Demokratie“ gebe, um das angestrebte System zu erreichen. In der Konsequenz akzeptiert er damit das derzeitige kapitalistische System als unveränderbar. Demokratie erscheint bei ihm nicht als Ergebnis eines Kampfes, sondern als Ergebnis eines Kompromisses – insbesondere unter den Bedingungen der „Palastregierung“. Dies ist inakzeptabel. Demokratie in der Türkei wird nicht durch Versöhnung mit der herrschenden Klasse entstehen, sondern durch den politischen Kampf gegen sie.
Vor diesem Hintergrund ist auch der zentrale Auftrag an die PKK problematisch: „Beruft euren Parteitag ein und beschließt die Integration in Staat und Gesellschaft.“ Natürlich sollen sich Kurden in die Gesellschaft integrieren – aber auf der Grundlage der Gleichberechtigung. Doch was bedeutet „Integration in den Staat“? Nicht die Integration in den bestehenden Staat ist die Aufgabe, sondern der Kampf für dessen Demokratisierung!
Perspektive für die Zeit danach oder die Zukunft
Über die Gründe lässt sich streiten – doch dass die Waffen schweigen, kann niemand ernsthaft infrage stellen. Die Auflösung einer nationalen Organisation ist selbstverständlich deren eigene Angelegenheit, auch dazu steht niemandem ein Urteil zu. Man kann Öcalans Rechtfertigungen kritisieren, aber welche Begründung auch immer vorgebracht wird – sie rechtfertigt nicht die Kritik am Schweigen der Waffen. Diejenigen, die Waffen verherrlichen und heiligen, indem sie den bewaffneten Kampf unter allen Umständen als grundlegend verteidigen, und diejenigen, die glauben, dass der Kampf des Volkes nicht im Laufe der Kämpfe konkret gestaltet wird, sondern am grünen Tisch beschlossen wird, können nicht gegen die Niederlegung der Waffen protestieren, insbesondere nicht im Namen des Marxismus, ohne sich mit den realen Bedingungen der Kämpfe auseinanderzusetzen.
Marxisten verteidigen bedingungslos das Recht unterdrückter Nationen auf freie Selbstbestimmung. Sie treten für die Gleichheit der nationalen Rechte und die Gleichberechtigung aller Nationen ein. Ob unterdrückte Nationen ihr Selbstbestimmungsrecht nutzen, um im selben Staat wie die Unterdrückernation zu bleiben, ist allein ihre Entscheidung.
Die Niederlegung der Waffen durch die PKK und die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts zugunsten der Einheit wird – wie die DEM-Ko-Vorsitzenden und Sprecher in ihrer ersten Reaktion betonten – den Terrorismusvorwurf entkräften, der bislang als Vorwand diente, legitime Rechtsforderungen zu unterdrücken, und den Kampf für Rechte erleichtern.
Aus Sicht der Arbeiterklasse, der sozialistischen Sache und des Klassenkampfes ist dies ebenfalls eine positive Entwicklung. Denn sie beseitigt ein wesentliches Hindernis für die Entfaltung des Klassenkampfes: die von Kapital und Reaktion geschürte türkisch-kurdische Spaltung sowie der nationale Konflikt, bei dem Gewalt auf beiden Seiten eine Rolle spielt und der wiederum durch staatliche Repressionsmaßnahmen verstärkt wird.
Das Schweigen der Waffen bedeutet allerdings keineswegs, dass die Ungleichheit verschwunden wäre oder von selbst verschwinden wird. Nationale Freiheit bleibt – wie soziale Freiheit – ein Ziel, für das weiterhin gekämpft werden muss. Die Niederlegung der Waffen bedeutet nicht, dass nationale Forderungen hinfällig oder bereits erfüllt seien. Im Gegenteil: Das Schweigen der Waffen ist ein Zeichen dafür, dass der Kampf mit anderen Mitteln fortgeführt wird. So wie Krieg die Fortsetzung der Politik durch den Einsatz von Waffen ist, ist das Ende der bewaffneten Auseinandersetzung die Fortsetzung des politischen Kampfes mit politischen Mitteln.
Der Kampf um eine Lösung der kurdischen Frage und um die Gleichheit nationaler Rechte ist ein zentraler Bestandteil des Kampfes für die Demokratisierung des Landes.
Die Besonderheit der aktuellen Lage liegt darin, dass die Palastregierung – eigentlich Ziel des Demokratisierungskampfes – diesen neuen Prozess unter dem Druck innen- und außenpolitischer Zwänge und auf Bahçelis Initiative hin auf die Tagesordnung gesetzt hat. Es besteht kein Zweifel daran, dass ihr Ziel nicht die Gleichheit nationaler Rechte ist. Sie steht dem entgegen und zielt vielmehr darauf ab, das kurdische Volk durch diesen als „Türkei ohne Terror“ propagierten Prozess an sich zu binden und so ihre Machtbasis zu sichern. Um das kurdische Volk zu überzeugen, muss darauf bestanden werden, den Kampf um nationale Rechte als integralen Bestandteil des allgemeinen Demokratisierungskampfes zu führen. Dafür sind bestimmte Zugeständnisse nötig, die die Palastregierung machen muss – etwa Strafmilderungen, Freilassungen und symbolische Maßnahmen wie die offizielle Anerkennung des Begriffs „kurdisch“ als Ausdruck der Akzeptanz von Muttersprache und ethnischer Identität.
Der Prozess vom 19. März und die daraus resultierende wachsende gesellschaftliche Opposition bieten zweifellos eine Grundlage und eine Chance, den Kampf um nationale Rechte zu stärken – als Teil des umfassenden Kampfs für die Demokratisierung des Landes und für eine demokratische Lösung der kurdischen Frage. Die Haltung der CHP, die das kurdische Volk so deutlich wie nie zuvor unterstützt, darf dabei nicht unterschätzt werden – und wird es wahrscheinlich auch von der kurdischen nationalen Bewegung nicht.
Die Einheit der gesellschaftlichen Opposition, ihre möglichst breite Verankerung und die Integration der Forderung nach nationaler Gleichheit sind heute der einzige Weg, das Land zu demokratisieren. Die Hoffnungen, die die Ein-Mann-Regierung – auf dem letzten Weg zur Errichtung einer faschistischen Diktatur – zu wecken versucht, um ihren Machterhalt zu sichern, dürfen und können den Kampf für die Demokratisierung der Türkei nicht aufhalten.