1 Einleitung
Tot geglaubt, ist die Linkspartei wie der Phönix aus der Asche in den Bundestag aufgestiegen. Der deutsche Sozialreformismus behält somit seine parlamentarische Stimme. Nicht nur im Parlament, sondern auch auf den Straßen möchte die Linkspartei „gesellschaftliche Mehrheiten“ schaffen. Druck soll gegen die Merz-Regierung aufgebaut werden. Der Aufstieg der Linkspartei ist auch deshalb beachtenswert, weil große Teile einer fortschrittlichen Jugend die Partei direkt oder indirekt unterstützt haben. Die Jugend als besonders dynamischer und politisch wichtiger Teil der Bevölkerung hat so viel zu dem Aufstieg der Partei beigetragen. Die Anzahl neuer Parteimitglieder liegt in den Zehntausenden, die Mobilisierung für den Wahlkampf war erfolgreich.
Es stellt sich die Frage, wie sich der sozialreformerische Aufschwung nach den Wahlen weiterentwickeln wird. Dieser Text soll die Phänomene der letzten Monate und Jahre einordnen, die mit einem neuen Aufschwung sozialreformerischer Kräfte in Verbindung stehen. Wir wollen die gemeinsamen politisch-ökonomischen Grundlagen der heutigen sozialreformerischen Kräfte in Deutschland skizzieren. Die Linkspartei bildet hierbei einen wichtigen parlamentarischen Teil dieser Kräfte, wohingegen Akteure wie das Jacobin Magazin oder der Influencer-Ökonom Maurice Höfgen auf eine explizit ideologisch-theoretische Weise wirken. Der erste Teil besteht aus einer kritischen Definition und Einordnung des heutigen deutschen Sozialreformismus, in Abgrenzung zu seinem klassischen Vorgänger. Wir wollen dabei kurz auf die inhaltliche Entwicklung der Linkspartei und ihr selbstgewähltes Profil einer sogenannten organisierenden Klassenpartei eingehen. Darauf aufbauend wollen wir uns mit dem sozialreformistischen Klassen-, Partei-, Staats-, Imperialismus- und Sozialismusverständnis und den dazugehörigen Forderungen auseinandersetzen. Im letzten Abschnitt wollen wir schließlich auf die historische Rolle des Sozialreformismus blicken und klären, warum das Stadium des Imperialismus und seine derzeitige Phase alle vom Sozialreformismus propagierten Forderungen gar nicht oder nur in reaktionärer Form umgesetzt werden können.
2 Der klassische und moderne Sozialreformismus
Von einer ideologischen Perspektive unterscheiden sich der klassische Sozialreformismus und seine heutige moderne Form nicht wesentlich. Die (absolute) Beschränkung auf Reformen, das Verschieben der Revolution auf eine unbestimmte Zukunft, die grundsätzliche Ablehnung der Notwendigkeit eines revolutionären Umsturzes des Kapitalismus und schließlich die Begrenzung auf die parlamentarische Tätigkeit und damit die Absage an den Klassenkampf stellen die ideologischen Säulen des Sozialreformismus von gestern und heute dar.[1] Der entscheidende Unterschied zwischen dem klassischen Sozialreformismus und seiner heutigen modernen Erscheinung liegt im historischen Kontext beider Formen. Dieser Kontext besteht aus zwei grundsätzlichen Dimensionen: die Situation und Phase des imperialistischen Kapitalismus einerseits und der Fortschritt und die Bedingungen des Klassenkampfes andererseits.
Die Entstehung des imperialistischen Kapitalismus im Übergang zum 20. Jahrhundert ging mit der Entstehung und Konzentration des Monopolkapitals in den kapitalistisch fortgeschrittensten Ländern und mit der Entstehung und Sicherung der Monopolprofite einher. Der materielle Nährboden des damaligen Sozialreformismus lag in der Herausbildung einer Arbeiteraristokratie, also in der Herausbildung einer Schicht innerhalb der Arbeiterklasse, die aufgrund ihrer privilegierten Stellung, ihrem verstärkten Zugang zu den Monopolprofiten, eine integrative Wirkung hatte. So entwickelte sich mit der Zeit auch bei den sozialdemokratischen Parteifunktionären eine opportunistische Haltung. Um ihre eigene Stellung zu wahren, war dem Sozialreformismus jedes Mittel recht, die Kampfkraft der Arbeiterklasse und ihrer organisierten Teile zu neutralisieren und für den jeweiligen Imperialismus in die Reserve zu bringen.[2]
Die Stellung des Sozialreformismus zum Klassenkampf ist ihrem Inhalt nach daher eine reaktionäre. Die damaligen sozialreformerischen Kräfte waren die organsiertesten Teile einer umfassenden Arbeiterbewegung. Die damalige SPD, als größte und wirkmächtigste sozialreformerische Partei war die Arbeiterpartei in Deutschland. Die Wirkungsmöglichkeiten des damaligen Sozialreformismus, als stärkster politischer Ausdruck der damaligen Arbeiterbewegung waren auf einem Höhepunkt. Deshalb konnte der klassische Sozialreformismus das Bild erzeugen, selbst politischer Ausdruck einer besseren und gerechteren Version des Kapitalismus zu sein, die mittels Reformen erreichbar schien, aber niemals war.
Der heutige Sozialreformismus entstand in einer Periode des Niedergangs der Arbeiterbewegung, in seiner Abgrenzung zum neoliberalen Kapitalismus und der ihm vorausgegangen sozialreformerischen Kräfte. Der ideologische und praktische Niedergang der Arbeiterbewegung wurde in den westlichen kapitalistischen Ländern mit dem neoliberal turn der 1970er und 1980er durch die Kapitalseite aktiv verstärkt und mit vorbereitet.[3] Die Krise des Monopolkapitals der westlichen imperialistischen Staaten einerseits und die Klassenkämpfe der zwei Dekaden mit dem englischen Bergarbeiterstreik 1984/85 als einer der Höhepunkte dieser Zuspitzungen andererseits, veranlasste die herrschende Klasse, die bis dahin favorisierte keynesianistische Wirtschaftspolitik durch eine Politik des offenen Angriffs auf die Errungenschaften sozialreformerischer Politik zu ersetzen. Der mithilfe einer sozialdemokratischen Politik des „Klassenkompromisses“ hergestellte Sozialstaat wurde zunehmend demontiert. Waren es in der ersten Phase der mindestens 40 Jahre anhaltenden neoliberalen Epoche des imperialistischen Kapitalismus die konservativen politischen Kräfte der Thatchers und Reagens, die diesen turn vollzogen, waren es in der daran anknüpfenden nächsten Phase bereits die Akteure der westlichen Sozialdemokratie, die den neoliberalen Umbau des Kapitalismus weiterführten.
Daher dürfen Sozialreformismus und Sozialdemokratie nicht synonym im Sinne der historischen Parteienlandschaft verwendet werden. Die heutigen ihrem Namen nach sozialdemokratischen Parteien SPD, Labour Party, PS etc. sind vom Standpunkt ihrer Programmatik und ihrer praktischen Politik keine sozialreformerischen Kräfte. Sie nehmen alle mehr oder weniger offen die Positionen des Monopolkapitals ein und setzen die entsprechende Politik in politischer Verantwortung gleich mit um.[4] So stellt die Agenda-Politik der Schröder-SPD keine Verbesserungen für die werktätigen Massen dar, sondern ist eine direkte Exekution der neoliberalen Angriffe des Monopolkapitals auf die werktätigen Massen.
Die offene Stellungnahme der alten sozialreformerischen Kräfte für die herrschende Klasse und ihre Interessen erzeugte ein Vakuum. Die Aushebelung des Sozialstaates und seine Reduzierung auf ein Minimum an sozialer Absicherung, die Privatisierungswellen der öffentlichen Bereiche, der offene Übergang der Sozialdemokratie ins Lager des Monopolkapitals riefen eine neue Phase der Verelendung der werktätigen Massen hervor. Innerhalb der damaligen sozialreformerischen Kräfte formierte sich Widerstand und außerhalb dieser Kräfte gründeten sich neue, links von der Sozialdemokratie positionierende Parteien.
Der deutsche Sozialreformismus bekam mit der Gründung der Linkspartei im Jahr 2007 sein politisches Gesicht zurück.[5] Auf den Scherben der Agenda-Politik formierte sich die Linkspartei als neue politische Opposition. Die neoliberale Kürzungspolitik sollte rückgängig, der in der keynesianistischen Phase entstandene Sozialstaat in den imperialistischen Zentren wiedergewonnen werden. Somit stellt der moderne Sozialreformismus auch eine Bewegung da, die die Vergangenheit zurückerkämpfen möchte.
Die Linkspartei hat in den 18 Jahren ihres Bestehens mehrere Entwicklungsstadien durchlaufen. Zwei ihrer Eigenschaften blieben dabei konstant. Zum einen ihr unbestimmtes Verständnis einer Partei des sogenannten demokratischen Sozialismus, auf welches wir weiter unten zu sprechen kommen werden. Des Weiteren ihr pluralistisches Wesen, welche unterschiedlichste, sich teils widersprechende Strömungen miteinander unter einem Dach versammelt. Einerseits die koalitionskritischen Kräfte, andererseits die kompromissbereiten Realisten, einerseits die Palästina-solidarischen Aktivisten, andererseits die Antideutschen, einerseits die auf Arbeitskämpfe ihren Fokus richtenden Gewerkschafter, andererseits diejenigen, die diese Annäherung für Klassenreduktionismus halten. Wir könnten die Liste weiterführen. Die „Offenheit“ widersprüchlicher Positionen und Strömungen schwächte im Kontext einer aggressiveren Politik der herrschenden Klasse letztlich den oppositionelleren Teil der Linkspartei. Die Privatisierungen von staatlichem Wohneigentum in Berlin, die Aufgabe einer konsequenten Friedensposition, die damit einhergehende faktische Akzeptanz der NATO und zuletzt die Zustimmung für das Infrastrukturprogramm im Bundesrat durch die Vertreter aus Bremen und Mecklenburg-Vorpommern: Die Entwicklung der Linkspartei war und ist eine kontinuierliche Entwicklung des Rechtsrucks. Ihre derzeitige von ihr selbst propagierte „Rückbesinnung“ auf den Klassenkampf ist eine Konzession an die realen gesellschaftlichen Zuspitzungen und der Versuch, den Niedergang der Linkspartei aufzuhalten. Die Linkspartei überlebte; zumindest bis jetzt. Auch weil alle übrigen parlamentarischen Parteien in Fragen der Migrations- und Sozialpolitik so eng zusammenrückten, dass sich jede abweichende Position bereits als reale Alternative zu erkennen geben musste. Doch das radikale Vokabular des heutigen Sozialreformismus ist ein Tropfen auf dem glühenden Stein eines zunehmend aggressiver auftretenden deutschen Imperialismus.
3 Organisierende Klassenpartei?
Der temporäre politische Rückzug der revolutionären und organisierten Arbeiterklasse verfestigte sich mit dem Fortschreiten des neoliberalen Kapitalismus. Der Niedergang des Klassenbegriffs ist ideologischer Reflex des geschwächten realen Klassenkampfes. Die Kategorien, mit denen sozialreformerische Kräfte anfingen, zu operieren, beschränkten und beschränken sich oft nur auf „die Reichen“, „die Milliardäre“, „die da oben“, „die Armen“ und in anderen Fällen sogar auf „die Zivilgesellschaft“.[6] Dass das Vokabular sogar hinter die Sprache des klassischen Revisionismus zurückfällt, ist dabei kein Zufall, sondern Ausdruck genau dieses historischen Kontextes, in welchem sich der moderne Sozialreformismus befindet. Es ist ebenso wenig Zufall, dass es insbesondere die Sozialreformer der angelsächsischen Länder sind, die als erste mit dem neuen wording systematisch begonnen haben.[7] Von allen imperialistischen Ländern wurde die neoliberale Umstrukturierungspolitik am radikalsten in den USA und Großbritannien durchgeführt. Der Nährboden für den Sozialreformismus als Abgrenzungsideologie vom Neoliberalismus konnte so am stärksten gedeihen. Ansätze wie die MMT nahmen so nicht zufällig in den Vereinigten Staaten ihren Anfang. Die heutige Linkspartei ist ein Produkt der Vermengung unterschiedlicher sozialreformerischer Traditionen. An ihrem Klassenbezug wird dieser Prozess besonders deutlich.[8]
Die Linkspartei und mit ihr zusammen der moderne deutsche Sozialreformismus revidieren den Grundwiderspruch des Kapitalismus in zwei Richtungen. Nicht nur wird in klassisch-sozialreformerischer Manier der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit als versöhnlich propagiert. Die Begriffe Kapital und Arbeit selbst, Kapitalisten und Arbeiterklasse selbst verschwimmen im Programm der Linkspartei. Aus der ökonomischen, sozialen und politischen Klasse der Kapitalisten werden abstrakt die da oben, die Milliardäre etc. Aus der Arbeiterklasse, also der Klasse der Lohnabhängigen die da unten, die Armen, gelegentlich die Zivilgesellschaft etc. Mit der Lockerung der Kategorien, die den Widerspruch erst konstituieren, werden die Werkzeuge dumpfer, mit denen der Kapitalismus erst analysiert werden kann. Aus dem Kapitalismus als Klassengesellschaft wird ein allgemein abstraktes und ungerechtes System von Reich und Arm.
Die Anerkennung der gesellschaftlichen Wirklichkeit als Klassengesellschaft im Leitantrag der Linken ist nur ein ideologisches und daher nur symbolisches Zugeständnis an die Tendenz der sich zuspitzenden und sichtbarer werdenden Klassenkämpfe. Im Leitantrag „Wir sind die Hoffnung!“, möchte sich „Die Linke als sozialistische Mitgliederpartei“ profilieren.[9] Als die Arbeiterbewegung begann, in eine Phase ideologischer und organisatorischer Stagnation überzugehen, strichen die Sozialreformer den Begriff Arbeiterklasse aus ihrem Vokabular. Verschärfen sich die Klassenwidersprüche, möchten Teile der Linkspartei wieder etwas vom Proletariat als Klasse wissen.
So wie die Linkspartei den Grundwiderspruch programmatisch aushöhlt und – wie am Beispiel ihres Wahlprogrammes – gar nicht erst berührt, so ist sie nach wie vor keine organisatorische Plattform, die sich zu diesem Grundwiderspruch bewusst verhalten könnte. Sie will zwar wieder eine Partei der Arbeiterklasse werden. Sie kann diesem durch den Leitantrag neu auferlegten Ziel jedoch grundsätzlich nicht näherkommen, wie wir weiter unten sehen werden. Wir erwähnten bereits, dass die Linkspartei ein Gemisch unterschiedlicher sozialreformerischer Ansätze. Die Techniken, die insbesondere die Co-Vorsitzende Schwerdtner favorisiert und im Zuge der Bundestagswahl verwendete, wurden mitunter von der Partei der Arbeit Belgiens (PTB) und der Kommunistischen Partei Österreichs (KPÖ) entlehnt. Besonders sichtbar wurden diese Techniken in Berlin nachgeahmt. Die Linkspartei klopte mit tausenden von jungen Neumitgliedern an zehntausenden Wohnungstüren, um die Anwohner zu einer Wahl des Sozialreformismus zu bewegen. Zusätzlich wurden Sozialberatungen nach dem Vorbild der Grazer KPÖ eingerichtet, um für Menschen aus den Vierteln eine Anlaufstelle zu installieren. Soziale Themen – an erster Stelle die Wohnungsnot – stärkten das Bild der Linkspartei als Partei der kleinen und jungen Leute, die von fehlendem Angebot an bezahlbarem Wohnraum am meisten betroffen sind. Der Wahlerfolg der Linkspartei in der Hauptstadt als stärkste Kraft gründet sich darauf, mit den von PTB und KPÖ entlehnten Maßnahmen auf eine sich real zuspitzende Wirklichkeit zu reagieren und eine parlamentarische Hoffnung zur Beseitigung dieser trostlosen Wirklichkeit wiederzubeleben.
Die weitgehende Beschränkung auf die oben genannten Techniken und die Beschränkung dieser Techniken auf Wahlkämpfe zementiert jedoch den Anspruch der Linkspartei, bloß Wahlpartei zu bleiben. Eine „organisierende Klassenpartei“ zu werden, bedeutet die Lohnabhängigen dort zu organisieren, wo sie ihrem Ausbeutungsverhältnis ausgeliefert sind: in den Betrieben. Eine „organisierende Klassenpartei“ zu sein, bedeutet die Gesamtheit der Widersprüche und Konflikte in diesem System in notwendigem Bezug zum Grundwiderspruch zu setzen und die Klasse der Lohnabhängigen in diesem Geiste zu organisieren. Doch selbst, wenn die Linkspartei dem deutschen Sozialreformismus zu alter Stärke im Sinne seiner Verankerung in Masse und Klasse verhelfen würde (dessen Realisierbarkeit unbedingt angezweifelt werden sollte!), so stellt sich die Frage, in welche Richtung sich eine solche Kraftansammlung konzentrierte? Wir können bereits vorwegnehmen, dass die Wiederbelegung und Modernisierung der Linkspartei den Sozialismus nicht näherbringen, sondern vom Kampf für den Sozialismus ablenken wird und dass der Spielraum selbst der geringsten sozialreformerischen Forderungen, die die Linkspartei formuliert, in der jetzigen Phase des deutschen Imperialismus ungemein verengt ist. Die Linkspartei musste versprechen, was sie nicht halten wird. Anhand der folgenden drei Abschnitte wollen wir uns mit den konkreten politischen Sackgassen des Sozialreformismus auseinandersetzen.
4 Politik und Wirtschaft: getrennte Bereiche?
Dass es Interessenkonflikte gibt, akzeptieren wohl alle sozialreformerischen Strömungen. Die ‚Missstände‘ des Kapitalismus existieren. Sie können aber beseitigt werden, ohne den Kapitalismus und den bürgerlichen Staat als solchen beseitigen zu müssen. Auf den bürgerlichen Staat setzt der Sozialreformismus, ob alt oder neu, seine ungeteilten Hoffnungen. Die Machtfrage, im Sinne des Sturzes des Kapitalismus und der Ersetzung der Herrschaft des Kapitals durch eine proletarische Demokratie wird umgangen oder ignoriert. So wie der Staat auf seine instrumentellen Möglichkeiten reduziert wird, reduziert sich die Politik des Sozialreformismus auf eben diese Möglichkeiten, die bisherige Politik zu verändern. Da wir im Rahmen dieses Textes nicht die Gesamtheit sozialreformerischer Forderungen diskutieren können, wollen wir uns exemplarisch den Vorschlag der Linkspartei ansehen, die Schuldenbremse abzuschaffen. Die Schuldenbremse ist spezifisch deutsch, da es in anderen entwickelten kapitalistischen Ländern keine derartige in die entsprechende Verfassung geschriebene finanzielle Selbstbegrenzung des Staates gibt. Die Diskussion um die Schuldenbremse war im Zuge der vorgezogenen Wahlen dominierendes Diskussionsthema. Letztlich wurde sie gelockert. Nicht so wie die Linkspartei sich dies erhofft hat und noch dazu mit einem unangenehmen Beigeschmack, der sowohl die illusorische Haltung des Sozialreformismus offenbart und gleichzeitig die Glaubwürdigkeit der Linkspartei geschmälert hat.[10]
Ein grundlegendes Missverständnis, das der Sozialreformismus in Bezug auf den Staat produziert, ist die unterstellte Neutralität der staatlichen Mittel. Die Frage danach, ob die Schuldenbremse aufgehoben werden soll oder nicht, ist keine technische. Dass diese Angelegenheit jedoch zu einer technischen reduziert wird, stellt sie in den Dienst der herrschenden Klasse. Dass nicht in Soziales, Bildung und Gesundheit investiert wird, wird der existierenden Schuldenbremse zugeschrieben, nicht den existierenden Interessen der Herrschenden. Der Staat selbst hat bewiesen, dass er sein eigenes ‚Dogma‘[11] über Bord werfen und Sondervermögen aller Art[12] beschließen kann, um seiner Rolle als ideeller Gesamtkapitalist gerecht zu werden, ohne jedoch die Schuldenbremse als solche aufheben zu müssen. Da die Linkspartei aber auf die technische Hürde einer solchen Schuldenbremse verweist, stärkt sie den Glauben[13], dass mit einem Wegfall einer solchen Hürde, auch die Missstände wegfallen würden, als deren Ursache diese Hürde vermutet wurde. Der Wegfall der Schuldenbremse sagt nichts über die mit dem Wegfall verbundene Politik des Staates aus. Der Wegfall der Schulden sagt nicht darüber aus, wie viel Geld für was ausgegeben und von wem finanziert wird. Das herrschende Klasseninteresse wird in Ignoranz verwandelt. Man müsse den Staat und seine technischen und Verwaltungsabläufe nur richtig verstehen und plötzlich ergibt sich ein ganz neues Reich der Möglichkeiten einer ‚progressiven Wirtschaftspolitik‘.[14]
Der Beginn der neoliberalen Umstrukturierungsphase des Kapitalismus ruft unterschiedliche sozialreformerische Reaktionen hervor, die sich in entsprechenden Theorien manifestieren. Insbesondere der Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems Anfang der 1970er Jahre ermöglichte das Emporkommen neuer ideologischer Strömungen. Mit der Krise des imperialistischen Weltsystems wurde der Dollar als Ankerwährung verworfen und flexible Wechselkurse eingeführt. Die Loslösung von der Goldbindung eröffnete neue geldpolitische Möglichkeiten, die der US-Imperialismus bewusst anstrebte, um der zunehmenden Krise zu begegnen.
Die Modern Monetary Theory (MMT) ist wohl eines der berühmtesten post-keynesianistischen Kinder der Knapp’schen Geldtheorie.[15] Laut MMT könne der Staat, wenn er die Kontrolle über die Notenbank besitzt, unbegrenzt Geld drucken, um Ausgaben zu tätigen. Er kann nach dieser Theorie, seine Ausgaben immer decken. Er braucht nur die eigene Zentralbank dazu anzuweisen. Diesen Ablauf einmal verstanden, würden sich nach Vertretern der MMT, ganz neue Möglichkeiten einer nachfrageorientierten Wirtschaftspolitik ergeben. Noch besser ist sogar, dass gar kein Klassenkampf mehr nötig sei. Denn die höheren Ausgaben des Staates müssen nicht steuerfinanziert werden, sie müssen weder Reiche noch Arme treffen! Eine vermeintliche Win-Win-Situation.
Der Entstehungsraum der MMT liegt wenig überraschend in den USA. Die MMT wird von ihren Vertretern als deskriptive Theorie gehandelt, die die Wirklichkeit des Währungs- und Finanzsystems beschreibt. Seit Anfang dieses Jahrhunderts hat sich eine ‚progressive‘ Strömung aus den Annahmen der MMT gebildet, die einerseits Einzug in den linken Flügel der US-Demokraten gefunden hat und andererseits auch nach Europa und insbesondere nach Deutschland rüberschwappte. Die MMT treibt dabei das sozialreformerische Staatsverständnis auf die Spitze und stellt es gleichzeitig auf den Kopf. Die Auseinandersetzung[16] mit dieser sozialreformerischen Strömung ist insofern relevant, da sie besonders greifbar die Verblendungen im modernen sozialreformerischen Staatsverständnis aufzeigt. Noch dazu verkauft sich diese „Theorie“ als ökonomische Revolution.
Ein bekannter deutscher Vertreter der MMT im nicht-akademischen Spektrum ist der Ökonom Maurice Höfgen. Höfgen versucht, die Annahmen und Axiome der MMT mit sozialreformerischen Forderungen zu vermengen. Der YouTube-Ökonom lässt keinen Zweifel, dass die MMT unabhängig von der Klassenfrage betrachtet werden könne:
„Ja, die MMT gibt keine Antwort auf die Klassenfrage. Ja, sie zeigt, wie man die Macht der Arbeiter mit der Notenpresse verbessern kann. Nein, die MMT stärkt weder den Kapitalismus noch den Sozialismus. Denn sie ist weder eine politische noch eine gesellschaftliche Theorie noch ein politisches Regime oder Reformpaket.“[17]
Hier wird gleich der antagonistische Gegensatz mit erledigt und suggeriert, es gäbe Theorien über die Gesellschaft, die über den gesellschaftlichen Verhältnissen stünden. Besonders abstrus werden die Ausführungen Höfgens, wenn er dem Staat eine von der herrschenden Klasse vollständig abgekoppelte Rolle zuschreibt:
„Der neoliberale Kapitalismus war nicht etwa das Ergebnis staatlicher Kapitulation vor der erpresserischen Macht des privaten Kapitals, sondern wurde durch die Politik und ihre staatlichen Institutionen durchgesetzt. Auch heute gibt es keine freien Märkte, sondern nur Märkte, die nach staatlichen Regeln funktionieren. Und diese Regeln sind politisch gemacht und wurden nicht einfach durch das Kapital erzwungen. Kurz gesagt: Die geltenden Regeln sind neoliberal, weil der Staat sie dazu gemacht hat. Es stimmt, dass sich der Staat auch selbst neoliberale Regeln – etwa die Schuldenbremse – auferlegt und damit die eigene Handlungsfähigkeit eingegrenzt hat. Und es stimmt auch, dass dies dazu geführt hat, dass sich ungleiche Eigentumsverhältnisse – allen voran jene zwischen Kapital und Arbeitern – dadurch zementiert haben.“[18]
Höfgen und ‚linke‘ MMT-Vertreter verstehen sich selbst als anti-neoliberale Strömung, die neoklassische Mythen lüften will. Anstelle einer Aufklärung erfolgt jedoch eine weitere Mystifizierung. Indem sich die MMT auf die Beschreibung der ‚Wirklichkeit‘ beschränkt, unterstellt sie dem Staat und den bürokratischen Prozessen eine absolute Neutralität. Höfgen meint bspw., dass der „originäre Zweck des Geldsystems […] die Ermöglichung der Bewirtschaftung und Auslastung der vorhandenen produktiven Ressourcen zwecks Produktion unseres materiellen Wohlstandes“ sei.[19] Seine Einschätzung zu Bretton-Woods ist ähnlich romantisch: „In dieser Hinsicht hat das Bretton-Woods-System die Staaten in der Ausübung einer gemeinwohlorientierten Wirtschaftspolitik beschränkt, gar in wirtschaftspolitische Fesseln gelegt.“[20] Es bleibt nur das Geheimnis von Höfgen, woher diese ‚Fesseln‘ kommen mögen! Wenn die „geltenden Regeln […] neoliberal [sind], weil der [Staat] sie dazu gemacht hat“, was ist dann der Staat?
Was Höfgen verschweigt oder schlicht nicht versteht: der Staat kann technisch betrachtet zwar Geld drucken. Er kann aber dadurch nicht den Wert des Geldes bestimmen.[21] Geld ist Resultat eines historischen Prozesses der Warenproduktion. Es drückt ein Produktionsverhältnis, also die Beziehung zwischen Produzenten aus. Geld, unabhängig seiner stofflichen Form, spiegelt die Tauschwerte aller übrigen Waren in einer Warengesellschaft wider. Diese historische und ökonomische Entwicklung, die dem bürgerlichen Staat vorausgegangen ist, wird ignoriert und der über alles stehende Staat als prôton kinoûn akíneton[22] betrachtet.
Die MMT und ähnliche Theorien stellen keinen Fortschritt zur neoklassischen oder zu sonstigen bürgerlichen Wirtschafts- oder Staatstheorien dar. Im Gegenteil, sie vernebeln die Klassenverhältnisse, ersetzen zumindest gedanklich den Klassenkampf durch die Notenpresse und reduzieren damit die Frage nach dem Sozialismus auf das Verständnis technischer Abläufe des Staates. Der bürgerliche Staat selbst ist es, der diese ‚Theorien‘ Lügen straft, indem er sich ihrer eigenen Rezepte bemächtigt, um die Herrschaft des Kapitals zu zementieren. Dass sich MMT und Co. nur in Abgrenzung zur herrschenden Wissenschaft und Politik verstanden wissen wollen ist der ideologische Reflex der heutigen Ironie des heutigen Sozialreformismus, auf welche wir weiter unten noch eingehen werden.
5 Demokratie versus Imperialismus?
Nach dem Sozialreformismus ist der bürgerliche Staat im Grunde seines Wesens neutral bzw. kann dieser Staat im Interesse der ‚Mehrheit‘ handeln. Der Weg, um dieses Ziel zu erreichen ist die parlamentarische Demokratie. Diese gilt es nicht nur zu verteidigen, sondern als Wesensmerkmal eines guten, eines besseren Staates zu begreifen und einen solchen Staat von anderen Staaten abzugrenzen. So kritisiert Jan van Aken, dass Washington die Ukraine nur ausplündern wolle, statt Friedensgespräche auf Augenhöhe stattfinden zu lassen.[23] Er unterstellt mit einer solchen Behauptung die Möglichkeit, dass ein bürgerlicher Staat grundsätzlich anders und im Interesse der unterdrückten Ukraine handeln könne. Das, was bisher gemacht ist, ist mit anderen Worten schlechte Politik. In Abgrenzung zu Trump lobt der Co-Vorsitzende der Linkspartei Bundeskanzler Friedrich Merz für seine Initiative, sich mit weiteren europäischen Regierungs- und Staatschefs getroffen zu haben, um über die Zukunft der Ukraine zu beraten.[24]
Was tut van Aken, indem er den „schmutzigen Deals von US-Präsident Donald Trump mit Putin“ das gemeinsame Auftreten von europäischen Staaten entgegensetzt? Er vertuscht die Eigeninteressen der Monopole in den imperialistischen Staaten der EU und Europas. Er greift den alten revisionistischen Versuch Kautskys auf, den Imperialismus als politische Spielart, nicht als globalen Gesamtzusammenhang und notwendige konkrete Politik der am weitesten entwickelten Staaten zu betrachten.[25] Van Akens moderner ‚Ultraimperialismus‘ führt zu der von ihm erhofften „Friedensmacht“ Europa. Anders kann die Schlussfolgerung auch nicht lauten, wenn bereits jeder Klassenwiderspruch im sozialreformerischen Staatsverständnis ausgemerzt, das ‚Politische‘ vom ‚Wirtschaftlichen‘ getrennt wurde. So wird nur folgerichtig, eine ‚imperialistische Politik‘ von der ökonomischen Notwendigkeit getrennt. Indem man diese zwei Seiten gedanklich trennt, leistet man dem deutschen, französischen, britischen Imperialismus einen praktischen Dienst. Man identifiziert diese Imperialismen gar nicht erst als solche, sondern als ‚Demokratien‘, die gegen Diktaturen oder Halbdiktaturen in Stellung gebracht werden müssten. Man verschleiert das eigentliche Wesen dieser ‚Demokratien‘ und schließlich verschleiert man ihren imperialistischen Kern. Die Linke schreibt dazu:
„Dafür braucht es eine EU, die sich in der Blockkonfrontation unabhängig macht und ohne Doppelstandards Völkerrecht und Menschenrechte achtet – und überall für Gerechtigkeit, Kooperation und Demokratie eintritt. Nach der Wahl von Donald Trump wird umso deutlicher, dass wir Sicherheit und Landesverteidigung unabhängig von der NATO europäisch denken und organisieren müssen. Wir wollen die NATO durch eine europäische Sicherheitsarchitektur ersetzen und durch mehr internationale Verhandlungsformate eine neue Sicherheits- und Entspannungspolitik stärken.“[26]
Die Linkspartei offenbart ihr Verhältnis zum deutschen Imperialismus: „unabhängig“ in der „Blockkonfrontation“ zu sein, bedeutet, als eigeständiger Block aufzutreten. Die Schützenhilfe von links kann den deutschen Monopolen einen moralischen Vorteil verschaffen. Es wäre natürlich vermessen zu meinen, das Monopolkapital wäre auf die Unterstützung der Linken angewiesen. Doch wenn die letzte parlamentarische Opposition in Fragen von Krieg und Frieden fällt und die Parteinahme für den deutschen Imperialismus von links normalisiert wird, so lassen sich Militarisierung und Aufrüstung deutlich ungezwungener vorantreiben.
Wie wir sehen, fallen mit der Wegnahme des Grundwiderspruchs auch gleich die beiden weiteren Hauptwidersprüche des imperialistischen Stadiums des Kapitalismus weg: der zwischenimperialistische Widerspruch wird zu einem Konflikt zwischen Demokratie und Imperialismus umgedichtet. Der Widerspruch zwischen imperialistischen Zentren und unterdrückten Völkern wird begrenzt auf einen Konflikt zwischen jenen Ländern, die aufgrund einer besonderen Politik imperialistisch entglitten sind und den abhängigen Ländern. Zwischen den demokratischen Ländern und den abhängigen Ländern könnte es also gar keinen Widerspruch mehr geben. Schließlich suchten Merz als oberster Vertreter des deutschen Kapitals und Selenskyj nach einer gemeinsamen Lösung.
Ein weiteres Beispiel für die Beschönigung des deutschen Imperialismus im Zuge des Ukrainekriegs, ist die Position, die Ines Schwerdtner in Ergänzung zu ihrem Co-Vorsitzenden van Aken einnimmt. Seit Kriegsbeginn sind die Lasten in Form angestiegener Inflationsraten, die auf die Arbeiterklasse abgewälzt wurden, enorm. Der Ukrainekrieg ist ein Krieg gegen die Arbeiterklassen dieser Welt, auch wenn er die ukrainischen Werktätigen am brutalsten, am direktesten trifft. Schwerdtner, damals noch Jacobin-Chefredakteurin, initiierte das Bündnis Genug ist genug!, welches sich gegen die Kürzungspolitik und zunehmende Inflation organisieren wollte. Auffällig an diesem Bündnis war, dass es sich zu dem parallel entstanden Bündnis Heizung, Brot, Frieden in der Frage nach der Bewertung des Ukrainekrieges abgrenzte. Es nahm im Gegensatz zu letzterem keine Position zum Krieg ein. Und was noch viel wichtiger ist: es nahm keine Position zur massiven Aufrüstung ein. Als kluge Taktik gelobt, um ein breiteres Bündnis zu ermöglichen, führte es dazu, jeden Versuch, die Rolle des deutschen Imperialismus zumindest in Ansätzen zu benennen, von vornherein zu verunmöglichen. Aus der Taktik, das alltägliche Leben der Menschen zu adressieren, wurde die opportunistische Haltung, die Frage nach dem deutschen Imperialismus unbestimmt zu lassen.
Genauso auffällig verhält sich der Podcast Wohlstand für Alle in der Frage nach dem Verhältnis von imperialistischer ‚Politik‘ und kapitalistischer ‚Wirtschaft‘. Aller Wahrscheinlichkeit nach einem Artikel der Gruppe Gegenstandpunkt entlehnt[27], verwerfen Wolfang M. Schmitt und Ole Nymeon die Imperialismustheorie Lenins mit vorgeschobenen und falschen Argumenten.[28] Sie verraten dabei jedoch ihre dualistische Anschauungsweise: der Staat habe eine ‚relative‘ Eigenständigkeit zur ‚Wirtschaft‘, nicht alle Außenpolitik lasse sich auf Kapitalinteressen ‚reduzieren‘ etc. Indem sie jedoch eine platte Reduktion vermeiden wollen, koppeln sie Geostrategie und Kriege vollständig von Kapitalinteressen ab, verwandeln die ‚relative‘ Eigenständigkeit in eine absolute Eigenständigkeit des Staates. Kurz, sie gelangen zu derselben mystifizierenden Vorstellung des Staates und seiner imperialistischen Politik, ohne damit in irgendeiner Weise den Zusammenhang zwischen imperialistischer ‚Politik‘ und kapitalistischer ‚Wirklichkeit‘ erklären zu können.
Die Trennung von ‚Politik‘ und ‚Wirtschaft‘ mündet schließlich in die Illusion einer nichtimperialistischen Politik, trotz Monopolen, die die Weltwirtschaft entscheidend beeinflussen. In seiner kritischen Phase der Wiedergewinnung militärischer Macht erfreut sich der deutsche Imperialismus dieser sozialreformerischen Schützenhilfe. Angst muss er nicht haben. Denn seinen Sturz hat er nicht zu befürchten.
6 Der demokratische Sozialismus
Wohin sollen all diese Erörterungen und Grundpositionen des modernen Sozialreformismus führen? Da der Sozialreformismus keinen wirklichen Unterschied zwischen Sozialismus und Kapitalismus machen kann, weil es ihm an jeglichem grundlegenden Sozialismusverständnis mangelt, muss er die grundsätzlichen Unterschiede im Rahmen des Kapitalismus selbst suchen, auf den er sich schließlich beschränkt. Aus dem Kampf zum Sturz des Kapitalismus schlechthin entwickelt sich der Kampf gegen den neoliberalen und autoritären Kapitalismus. D.h. die Widersprüche werden zwischen den verschiedenen Strömungen und politischen Angeboten gesucht, die sich alle im Rahmen des ‚demokratischen‘ Kapitalismus verwirklichen lassen sollen.[29]
Nichts anderes ist dabei der demokratische Sozialismus. Es gibt keine eindeutige Definition oder Vorstellung dieses Konzeptes. Es lebt in gewisser Weise von seiner Unbestimmtheit und Offenheit.[30] Ob Sozialismus des 21. Jh., Sozialismus 2.0 oder eben der demokratische Sozialismus, alle diese Begriffe versprechen eine jeweils andere Traumvorstellung einer anderen Gesellschaft, einer wirklichen Alternative zum Kapitalismus. Was all diese Begriffe eint, ist die ‚Utopie‘, dessen Realisierung ebenso vage gehalten ist, wie das Ziel selbst.
Ein besonderes Augenmerk wollen wir auf zwei Publikationen richten, in denen Ausarbeitungen eines ‚neuen‘ Sozialismusmodells vorliegen. Die PTB veröffentlichte bereits im Jahr 2015 auf ihrem Solidaritäts-Kongress eine detaillierte programmatische Ausarbeitung ihres Socialisme 2.0.[31] Die Programmatiken derartiger sozialreformerischer Bewegungen übertreffen sich jeweils in ihrer Abgrenzung zum ‚alten‘ Sozialismus. Wenn schon der Sozialreformismus auf den Trümmern der Arbeiterbewegung gedeiht, so will er erst gar nichts von Gründen des Einsturzes wissen. Der ‚neue‘ Sozialismus soll kommen, ohne auf irgendeine ‚dunkle‘ Vergangenheit referenzieren zu müssen:
„Wir brauchen heute einen Paradigmenwechsel, eine andere Sichtweise auf die Welt, den Menschen und die Natur: Wir müssen unseren Horizont erweitern und die Welt mit ganz anderen Augen betrachten. Wir sind überzeugt, dass ein Sozialismus unserer Zeit, ein Sozialismus 2.0, im 21. Jahrhundert nicht nur möglich, sondern notwendig ist. Ein Sozialismus 2.0 mit menschlicher Dimension, in dem die Dinge, die wichtig sind, garantiert sind.“[32]
Diesem Sozialismus 2.0 mit „menschlicher Dimension“
„geht also nicht um ein kleines Detail, das hier und da geändert werden muss. Der Sozialismus 2.0 ist eine ganz andere Gesellschaft. Die Propheten des Neoliberalismus bezeichnen dies als „gefährliche Illusion“. Sie wollen die Trümmer nicht sehen, die die größte Illusion der letzten Zeit, der große Traum von der Überlegenheit des freien Marktes, hinterlässt. Je größer die Trümmer werden, desto stärker schlägt die Krise zu, desto mehr behaupten diejenigen, die davon profitieren, dass es keine Alternative gibt. Je weiter sich diese Trümmer ausbreiten, desto härter schlägt die Krise zu, desto mehr behaupten diejenigen, die davon profitieren, dass es keine Alternative gibt, desto mehr Menschen werden sich auf die Suche nach einer emanzipatorischen und befreienden Perspektive begeben.“[33]
Hier haben wir wieder die Ignoranz als Grundübel des Systems. Die materielle Not der herrschenden Klasse, ihre Monopolprofite zu sichern, wird umgedichtet in „Traum von der Überlegenheit des freien Marktes“. Die angehängte Rechtfertigung wird mit der Erklärung gleichgesetzt. Der „Suche nach einer emanzipatorischen und befreienden Perspektive“ kann nach Auffassung der belgischen Sozialreformer nur in der „einzig konsequenten Lösung“ münden,
„die Schlüsselbranchen, die die Wirtschaft tragen, […] zu „sozialisieren“. Die Gemeinschaft übernimmt die Verantwortung für sie. Ihr Ziel ist dann nicht mehr die Gewinnmaximierung für die Aktionäre, sondern die Organisation der Produktion entsprechend den Bedürfnissen der Gesellschaft, im Rahmen einer geplanten Entwicklung und unter Einhaltung sozialer und ökologischer Normen. Die Erträge aus der Produktion fließen dann zurück an die Allgemeinheit und können auch zur Befriedigung öffentlicher Bedürfnisse verwendet werden.“[34]
Die Kategorien der „Gemeinschaft“ und der „Allgemeinheit“ sind ebenso vage gehalten, wie der Prozess der ‚Sozialisierung‘ und die „geplante Entwicklung“. Was passiert mit den Aktionären? Dürfen diese noch existieren? Was passiert mit dem Markt? Was mit dem Privateigentum an Produktionsmitteln? Wie soll das ganze umgesetzt werden? Die PTB gibt die folgende Antwort:
„Der Sozialismus 2.0 strebt nicht nach „einem anderen 1%“, einer anderen herrschenden Klasse oder einem Machtwechsel an der Spitze. Ein Machtwechsel wird notwendig sein, um die absolute Macht der Elite zu brechen. Das Ziel ist, dass die 99 % regieren, dass zum ersten Mal Millionen von Arbeitnehmern wirklich ein politisches und soziales Mitspracherecht haben. Dass sie an allen wichtigen Hebeln zur Organisation der Gesellschaft und des Zusammenlebens mitwirken. Und das auf allen Ebenen: im Stadtteil, im Unternehmen, in der Provinz, im Land. Jeder kann an Entscheidungen über die Ziele des Gemeinwesens (der Wirtschaft) mitwirken. Die wichtigsten Entscheidungen über die Ausrichtung der Gesellschaft werden durch direkte Demokratie (Partizipation) getroffen: die Schaffung oder Änderung der Verfassung, wichtige wirtschaftliche und ökologische Entscheidungen, die Organisation des Gesundheits- und Bildungswesens, der Umweltschutz, ethische Fragen. Die Demokratie wird vertieft, sie wird zu einer echten partizipativen Demokratie, und der Staat garantiert, dass die neue Demokratie in den Händen der 99 % bleibt. Aus dem sozialen Kampf für eine neue Gesellschaft ohne Ausbeutung werden auch neue demokratische Institutionen entstehen, die für die Gestaltung der Partizipation im Sozialismus 2.0 unerlässlich sind.“[35]
Nur wie soll der Staat garantieren, dass die „neue Demokratie in den Händen der 99% bleibt“? Und wie sieht ein notwendiger Machtwechsel aus? Wie soll die herrschende Klasse von „allen wichtigen Hebeln zur Organisation der Gesellschaft“ entfernt werden? Diesen Fragen bleiben die belgischen Sozialreformer eine Antwort schuldig.
Die Linkspartei-Politiker Bernd Riexinger und Raul Zelik veröffentlichen 2024 ein Dokument, in welchem sie ihre Vorstellung vom demokratischen Sozialismus ausformulierten.[36] Eine detaillierte Besprechung der Veröffentlichung fand bereits statt.[37] Wir wollen uns daher nur auf folgende nicht-originäre Überlegungen der beiden Autoren beschränken:
„Korsch skizzierte eine Form von Vergesellschaftung, bei der eine Staatsbürokratie nicht die Alleinherrschaft hätte übernehmen können. Verschiedene Formen des Gemeineigentums, die Selbstverwaltung von Betrieben und eine demokratisch gewählte Leitung der Wirtschaftsbereiche sollten einen Prozess in Gang setzen, durch den die Gesellschaft die Kontrolle über das Arbeits- und Wirtschaftsleben erlangen könnte.“[38]
Über die konkreten Eigentumsverhältnisse, die es im ‚neuen‘ Sozialismus geben soll, schreiben die Autoren:
„Der bereits erwähnte Karl Korsch stellte dazu eine These auf: Die Einführung von verschiedenen Gemeineigentumsformen sei nur der erste Schritt. Der zweite Schritt – hin zu einer Gesellschaft, in der «jeder nach seinen Möglichkeiten» beiträgt und «jeder nach seinen Bedürfnissen» erhält – sei davon abhängig, dass ein starker gesellschaftlicher Gemeinsinn entstehe, denn in freundschaftlich-solidarischen Beziehungen erwarte man keine unmittelbaren Gegenleistungen.“[39]
Dabei umschreiben Riexinger und Zelik das Konzept verschiedener „Gemeineigentumsformen“ mit den Worten Nancy Frasers, dass die „Regel […] weder Märkte noch Privateigentum ‚at the top‘“ laute, sehr wohl aber „einige Märkte dazwischen“ möglich wären.[40] Der Versuch der Abgrenzung von jeglichem „Stalinismus“[41] ist so stark, dass die heutigen Vertreter des Sozialreformismus das Wort der ‚Demokratie‘ überbetonen müssen, um jeglichen Verdacht, eine konsequente Planwirtschaft einführen zu wollen, zu verringern. Denn warum müssen die Autoren den Umweg über verschiedene Eigentumsformen gehen? Haben sie Angst, die Arbeiterklasse sei noch nicht bereit, mit der ganzen Wahrheit konfrontiert zu werden?
Dem Spießbürger Bernstein setzen Riexinger und Zelik den rätekommunistischen Romantiker Karl Korsch gegenüber. Anstelle der Bernsteinschen Bewegung ohne Ziel strebt der moderne Sozialreformismus einen „Demokratisierungsprozess“[42] und einen „kulturelle[n] Prozess“[43] an, der uns jenen Sozialismus bescheren soll, den wir nie hatten!
Der ‚Sozialismus‘ des modernen Sozialreformismus ist tatsächlich Utopie. Da letzterer auf den Trümmern des Klassenkampfes erwächst, kann ersterer keine reale Perspektive widerspiegeln, die realisierbar wäre. Insofern verfängt der heutige Sozialreformismus einer Nostalgie, die sein klassischer Vorgänger im Verbund mit der herrschenden Klasse zweitweise errichtete. Nur ist der historische Kontext heute ein verschiedener. Die damaligen Bernsteins und Kautskys konnten ihrer eigenen Illusion der Reformierbarkeit des Imperialismus mit einer gewissen empirischen Berechtigung zum Opfer fallen oder sich im vollen Bewusstsein dieser Illusion mit der Situation zufriedengeben. Die damalige Vorkriegs-SPD schien unaufhaltsam durch die parlamentarischen Hallen zu marschieren. Die Arbeiterklasse hatte mit ihrer Sozialdemokratie einen eigenen Staat im Staate geschaffen. Wer brauchte noch von der Revolution zu träumen, wenn eine andere Gesellschaft im kapitalistischen Rahmen längst umsetzbar schien? Ganz anders heute. Die Tragik des modernen Sozialreformismus und seiner Sozialismus-Konzeption liegt im Folgenden: die Utopie, die er anstrebt, ist weder Sozialismus noch umsetzbar.
7 Rolle des Sozialreformismus in der jetzigen Phase des Imperialismus
Die radikale Romantik, mit der die Linkspartei und ihre Vertreter spielen, fällt zusammen mit der Unmöglichkeit diese Romantik in die Wirklichkeit umzusetzen. Der moderne Sozialreformismus ist mit einer herrschenden Klasse konfrontiert, die den Druck auf die Arbeiterklasse ins Unermessliche steigert. Dieser Druck ermöglicht insbesondere der Linkspartei, eine Projektionsfläche für all jene zu sein, die sich Hoffnungen auf eine bessere Version der herrschenden Verhältnisse machen. Gleichzeitig erstickt der deutsche Imperialismus mit seinem aggressiven Auftreten jede Hoffnung auf eben diese Besserung. Die herrschende Klasse stellt dem Sozialreformismus die Frage und beantwortet diese gleich mit, ohne dass letzterem die Möglichkeit einer Entscheidung bliebe. Selbst wenn der Sozialreformismus eine Antwort findet, so ist er bereits zu spät.
Denn die Ironie des modernen Sozialreformismus liegt darin, dass einige seiner Forderungen – wenn auch in pervertierter Form – bereits heute vom deutschen Kapital umgesetzt werden. Der bisherige neoliberale Ansatz wird in ein kriegsvorbereitendes und autoritär-keynesianistische Modell transformiert. So wurde hierzulande, wie oben bereits erwähnt, die Diskussion um die Abschaffung der Schuldenbremse zu einer Farce. Der deutsche Imperialismus hat die Zeit und Geduld nicht, auf Antworten und Verbesserungsvorschläge der Sozialreformer zu warten. Er kann es auch nicht, wenn es seinen Platz in der Welt behaupten möchte. Wollen Schwerdtner, Reichinnek und van Aken etwas mitzureden haben, so müssen sie sich dem strategischen Kurs des Monopolkapitals bedingungslos unterordnen.
Es ist kein Zufall, dass sozialreformerische Kräfte am sichtbarsten in den USA und Großbritannien wurden. Zwei Länder, in denen die neoliberale Umwälzungsstrategie der Finanzkapitale am konsequentesten zum Tragen kam. Jede Politik, die sich gegen den Neoliberalismus der letzten 40 Jahre wandte, musste sich selbst als eine wirkliche Alternative zum bestehenden System begreifen. Der Sozialreformismus versteht dabei die Realisierung der eigenen Ziele als von den herrschenden Verhältnissen grundsätzlich abweichende Gesellschaft. Man könnte auch umgekehrt sagen: der imperialistische Kapitalismus hat dem Finanzkapital so viel direkte Bereicherung gewährt, dass selbst die Forderung nach einer höheren Kapitalertragssteuer als Weg zum Sozialismus verstanden wird. Doch ist das Finanzkapital deutlich flexibler in der Wahl seiner Mittel; entsprechend ist es auch der bürgerliche Staat, dessen Hauptfunktion die Aufrechterhaltung der herrschenden Ordnung bleibt.[44]
Die Staaten der imperialistischen Zentren sind bereits dabei, strategische Änderungen in ihrer Politik zu unternehmen. Die entscheidendsten Einschnitte stellen die Finanzkrise 2007-08 und die Corona-Pandemie 2020-21 dar.[45] Das bisherige Privatisierungsstreben und die Minderung von Regulierungen haben den bürgerlichen Staat als ideellen Gesamtkapitalist noch deutlicher zum Vorschein gebracht. Die Passivität des bürgerlichen Staates, die Zurückweisung des alten Keynesianismus durch den aufkommenden Neoliberalismus haben die Anteile der herrschenden Klasse am schrumpfenden Kuchen vergrößern können. Doch zeigen fehlende langfristige strategische Umsetzungen die Grenzen dieses „Wohlstandsmodelles“ auf. In der Zwischenzeit hat sich eine Konkurrenz zu China und den BRICS und Co. entwickelt und seither verschärft. Die Notwendigkeiten von militärischer Aufrüstung einerseits und staatlicher Interventionen in Form von Zollpolitik und Infrastrukturprogrammen andererseits, führen zu einer Wiederkehr des Keynesianismus, der sich jedoch von seinem Nachkriegsvorgänger unterscheidet.
Wir sind nicht im Übergang zu einem Keynesianismus alter Zeiten. Vielmehr heben sich Nachkriegskeynesianismus und Neoliberalismus als Gegensätze in eine neue Phase des imperialistischen Kapitalismus auf. Die Tendenz der westlichen imperialistischen Zentren als alte Imperialismen ist die Zunahme an staatlicher Repression und Intervention bei gleichzeitiger Beibehaltung und Verschärfung der Kürzungspolitik gegen die werktätigen Massen. Autoritärer Staatsumbau, Infrastrukturprogramme, eine strengere Zollpolitik und Abbau des Sozialstaates widersprechen sich nicht zwangsläufig. Sie ergänzen sich in einer Phase, in der die imperialistische Konkurrenz zunimmt und die nationalen Kapitale für die zukünftigen Verteilungskämpfe gewappnet werden.[46] Dem Staat als Garant der allgemeinen Produktionsbedingungen kommt dabei eine entscheidende Rolle zu.[47] Der Staat hat dabei nie seine Funktion als ideeller Gesamtkapitalist verloren. Nur die Maßnahmen, die der Staat ergreift, haben sich entsprechend der historischen Situation verändert. Sie mussten sich verändern, damit der Staat weiterhin als eben dieser ideeller Gesamtkapitalist die Produktions- und Zirkulationsvoraussetzungen des Kapitals garantiert.
Es gibt daher eine, wenn auch unbeabsichtigte Gleichzeitigkeit zwischen dem neuen autoritären Neoliberalismus der herrschenden Klasse und den ideologischen Konzeptionen des Sozialreformismus, was auch zu einer Selbstenttarnung des Sozialreformismus führt. Der deutsche Sozialreformismus nimmt hier fast schon eine Sonderstellung ein. Der deutsche Imperialismus befindet sich in seiner wohl kritischsten Phase der Nachkriegszeit. Er steht an einem Scheideweg und mit ihm werden ungeheure Ressourcen des deutschen Staates mobilisiert, deren Umfang in der Geschichte der Bundesrepublik beispiellos ist. Eine weitere Ironie liegt darin, dass der hiesige Sozialreformismus dem deutschen Imperialismus eine (unbeabsichtigte) ideologische Schützenhilfe leistet, um letzteren aus den Grabenkämpfen der imperialistischen Konkurrenz zu befreien. Der Sozialreformismus wird ohne eine radikale Änderung seiner ideologischen und praktischen Mittel von einer oppositionellen Kraft gegen den Imperialismus zu einer den deutschen Imperialismus stützenden Kraft. Dass diese Änderung jedoch eintreten könnte, ist wohl eine weitere Hoffnung, die früher oder später enttäuscht wird.
8 Ausweg aus der Träumerei
Könnten die Hoffnungen auf einen „wirklichen“ längst überfälligen Umschwung innerhalb der Linkspartei und der gesamten sozialreformistischen Bewegung hierzulande zu möglich werden? Nach 18 langen Jahren unterschiedlicher Koalitionsregierungen auf Länderebene, der kontinuierlichen Revidierung des eigenen Programms und des eigenen politischen Niedergangs, bleibt man jedoch der Antwort schuldig, wie so ein Bruch innerhalb der Linkspartei aussehen soll?
Wir glauben, dass dieser Weg nicht der richtige ist. Das Festhalten an der Linkspartei, als vermeintlich einziger Hoffnungsschimmer im Kampf gegen die Missstände, wird die Missstände nicht beseitigen, aber das Gefühl der Hoffnung in einem verzweifelten Maße aufblähen, bis die Hoffnungsblase geplatzt und die grenzenlose Enttäuschung einkehrt ist. Wie war es anders, als die Linkspartei kurz vor der Bundestagswahl am Boden lag?
Und nun mit großem Lärm auf die politische Bühne des Bundestags zurückgekommen, schafft es die Linkspartei selbst noch in kürzester Zeit hinter das Niveau ihres politischen Niedergangs zurückzufallen. Die Absprache der Linkspartei und der CDU hinter verschlossenen Türen zwischen den, die ständige Bitte an die CDU das Verhältnis zur Linkspartei zu überdenken und zu normalisieren und die momentanen Gedankenspiele Schwerdtners über eine mögliche Erhöhung des Renteneintrittsalters, zeigen wohin der Sozialreformismus aktuell zusteuert. Er organisiert nicht die Hoffnung, sondern die Enttäuschung.
Die Linkspartei und der Sozialreformismus sind nicht bloß Ursache für die Schwäche der Arbeiterbewegung. Sie sind das Produkt dieser Schwäche und zementieren sie, indem sie all die ehrlichen Kraftanstrengungen von tausenden Menschen, die sich gegen Missstände organisieren wollen, binden und schließlich enttäuschen. Das heißt jedoch nicht, dass man den Kampf auf Sein oder Nichtsein der Linkspartei beschränken oder davon abhängig machen darf.
Der Unmut wird mit der Verschärfung des Klassenkampfs nicht abebben, sondern wachsen. Die Notwendigkeit, sich gegen die Politik der herrschenden Klasse zu stellen, nimmt täglich zu. Die Kriegsvorbereitung verschärft sich in einem beispiellosen Maße und im Herbst der „Reformen“ wartet die geballte Faust der herrschenden Klasse auf die werktätigen Massen, um ihre Lebensbedingungen weiter zu zerstören. Wir können nicht bis zur nächsten Bundestagswahl warten und nicht bis zum nächsten Aufstieg der Linkspartei aus der selbst erzeugten Asche, um uns gegen die herrschende Politik zu organisieren. Es bedarf einer Organisierung, die sich konsequent gegen die Angriffe des Kapitals richtet. Diese Organisierung darf nicht auf romantischen Träumereien oder unbestimmten Phrasen vom demokratischen Sozialismus aufgebaut sein. Diese Organisierung kann ihr eigenes Schicksal und das Schicksal der werktätigen Massen nicht in die Hände dieses oder jenes Politikers legen, dessen höchste Berufung ein Ministerposten ist, auf welchem er das Gegenteil seiner eigenen Forderungen umsetzt. Diese Organisierung muss sich von der Illusion befreien, eine bessere Version des Kapitalismus errichten zu können. Diese Organisierung muss schließlich die Kampfkraft der Arbeiterklasse und all jener organisieren, die sich den Angriffen der herrschenden Klasse nicht beugen. Wir rufen all jenen zu: organisieren wir nicht die in die Enttäuschung mündende Hoffnung! Organisieren wir den gemeinsamen Kampf der Arbeiterklasse von unten, gegen die bevorstehenden Kürzungen und die massive Kriegsvorbereitung des deutschen Imperialismus!
[1] An anderer Stelle wurde bereits auf den heutigen Charakter und die Stellung des modernen Sozialreformismus eingegangen (siehe Modern Social Reformism and the KKE)
[2] Der erste praktische Höhepunkt dieses Opportunismus stellt die aktive Unterstützung für den Ersten Weltkrieg (insb. durch die Billigung der Kriegskredite) dar.
[3] Der Niedergang der Arbeiterbewegung, ihre organisatorische und ideologische Schwäche liegen nicht zuletzt im Rückzug der kommunistischen und Arbeiterbewegung begründet. Eine Analyse über diese Seite der Medaille würde jedoch den Rahmen dieses Artikels sprengen. Wir beschränken uns hier nur auf die Rolle des Sozialreformismus.
[4] Das bedeutet keineswegs, dass Linkspartei, SYRIZA und Co. in Regierungsverantwortung nicht ähnlich handeln würden.
[5] Zwar existierte die ostdeutsche PDS und die westdeutsche WASG als sozialreformistische Vertreter bereits. Doch waren diese nie Ausdruck eines gesamtdeutschen Akteurs.
[6] Mit den Worten „Mein Name ist Jan van Aken und finde, es sollte keine Milliardäre geben“[6] begann der Linkspartei-Politiker seine Bewerbungsrede zum Vorsitz auf dem Bundespartei 2024. Im Wahlprogramm der Linkspartei steht: „Es sollte keine Milliardäre geben!“
[7] Man denke an das öffentlichkeitswirksame zur Schaustellen des T-Shirts von Jan van Aken mit dem Aufdruck „tax the rich“.
[8] Die Co-Vorsitzende der Linkspartei, Ines Schwerdtner steht für die personelle Übertragung des angelsächsischen Modells des Sozialreformismus auf die deutschen Verhältnisse.
[9] Ebd.
[10] Letzteres ist insbesondere durch das Verhalten des Bremer und Mecklenburg-Vorpommerschen Landesverbandes im Bundesrat deutlich geworden. Beide Verbände haben für das Infrastrukturprogramm und die teilweise Aussetzung der Schuldenbremse zum Zwecke der Aufrüstung gestimmt und sich damit
[11] Ein irreführender Begriff der sozialreformerischen Kräfte.
[12] Es existieren aktuell 29 derartiger Sondervermögen.
[13] besser: die Illusion
[14] In eine ähnliche Kerbe schlägt Reichinneck, wenn sie fordert, dass das Geld in die Aufrüstung effektiver investiert werden müsse.
[15] Die MMT ist streng genommen also nicht neu, sondern eine Weiterführung des Chartalismus. Nach dieser Geldtheorie wird Geld durch staatliche Institutionen geschaffen und dadurch anerkannt, dass der Staat von seinen Bürgern Steuern abverlangt. Geld als allgemeines Äquivalent wird so von der historisch entstandenen Warenproduktion abgekoppelt und nur als ein Resultat einer staatlichen Deklaration betrachtet.
[16] …wenn auch nicht im Rahmen dieses Artikel…
[17] Siehe Klassenkampf mit der Notenpresse?
[18] Ebd.
[19] Siehe Mythos Geldknappheit. Höfgen, 2020, S. 35
[20] Ebd. S. 71
[21] Der Wert einer Ware bestimmt sich die durch die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit zur Herstellung derselben.
[22] erster unbewegter Beweger
[23] „Bis jetzt gibt es immer noch die Möglichkeit, aktiv was für Verhandlungen zu tun, wo eben nicht auf dem Rücken oder ohne die Ukraine über die Ukraine diskutiert wird, sondern wo China und die EU die Ukraine und Russland zu Verhandlungen einladen. Das ist erst mal was völlig anderes als das, was die USA versuchen. Bis jetzt gibt es immer noch die Möglichkeit, aktiv was für Verhandlungen zu tun, wo eben nicht auf dem Rücken oder ohne die Ukraine über die Ukraine diskutiert wird, sondern wo China und die EU die Ukraine und Russland zu Verhandlungen einladen. Das ist erst mal was völlig anderes als das, was die USA versuchen.“ [siehe https://taz.de/Jan-van-Aken-gegen-Aufruestungspolitik/!6073757/]
[24] „Es war richtig, dass er gleich als erste Aktion gemeinsam mit Tusk, Starmer und Macron nach Kiew gefahren ist. Das war genau der richtige Move. Wir sagen seit drei Jahren, man muss eigentlich mehr für Verhandlungen tun, und die haben endlich wieder das Heft des Handelns in die Hand genommen.“ [siehe https://www.n-tv.de/politik/Van-Aken-Richtig-was-Merz-gemacht-hat-article25765461.html]
[25] Im Gegensatz zu Kautsky, wagen die Apologeten der Linkspartei gar nicht erst eine materialistische Begründung für ihre These zu suchen.
[26] Siehe „Eine friedliche Welt ist möglich“. Die Linke
[27] Ein aktueller, aber falscher Klassiker: Lenin, der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus. Gegenstandpunkt (1981)
[28] Auf die Argumentationslinie von Gegenstandpunkt und Wohlstand für Alle einzugehen, würde den Rahmen dieses Artikels sprengen. Es bedarf eines eigene Artikels, der das revidierende Verständnis jener Akteure im Detail herausarbeitet.
[29] Die Faschismus-„Analyse“ der Linkspartei ist
[30] Ein weiteres Wesensmerkmal des Opportunismus.
[31] Siehe Égargir Unir Approfondir (2015)
[32] Ebd. S. 171
[33] Ebd. S. 172
[34] Ebd. S. 180
[35] Ebd. S. 205
[36] Siehe Was ist Sozialismus heute? Warum wir den Kapitalismus überwinden müssen. Riexinger & Zelik (2024)
[37] Siehe Sozialismus light – die Sozialismus-Vorstellungen der Linken. Arbeit Zukunft (2024)
[38] Ebd. S. 32
[39] Ebd. S. 34
[40] Ebd.
[41] Ebd. S. 9
[42] Ebd. S. 32
[43] Ebd. S. 34
[44] Da können selbst die Mittel in das Gegenteil umschlagen, gerade weil das Ziel dasselbe bleibt.
[45] Die Corona-Krise zeigt, dass auch externe Faktoren wie „quasi-natürliche“ Ereignisse, die inneren Widersprüche des Kapitalismus verstärken und die angestaute Krise zum Ausbruch bringen kann. So führten die Lockdowns zur Einschränkung von Produktion und Zirkulation des Kapitals, die wiederum zur Krise führten.
[46] Man könnte auch den Begriff des authortitarian turn verwenden, um das direktere und repressivere Eingreifen des Staates zu beschreiben. (Siehe Authoritarian developmentalism: The latest stage of neoliberalism?)
[47] So ist auch der viel diskutierte Inflation Reduction Act der damaligen US-Regierung unter Joe Biden ein Wendepunkt. Der Staat greift aktiv gegen andere Staaten ein, um die Produktionsbedingungen seines nationalen Kapitals zu verbessern.