Artikel aus der Einheit und Kampf Nr. 50, Juli 2025
Mit der Wahlniederlage im Juni 2015 verlor Erdoğan zum ersten Mal seine parlamentarische Mehrheit. Indem er den von ihm geführten „Friedensprozess“ beendete und den Druck und den Terror auf alle ausgebeuteten und unterdrückten Massen verstärkte, wobei allen voran die Dosis des Krieges gegen die Kurden erhöht wurde, gewann er die Neuwahlen und festigte seine Macht wieder. Im Jahr 2017 hatte er ein „Ein-Mann-Regime“ errichtet, indem er die Verfassung durch ein betrügerisches Referendum änderte und ein „Präsidialsystem“ einführte.
Die Kommunalwahlen im März 2024 waren Erdoğans zweite große Niederlage, und die AKP, die die Kommunen mehrerer Großstädte verloren hatte, wurde nur noch zweitstärkste Kraft. Als Ekrem İmamoğlu, der Bürgermeister einer dieser Großstädte, Istanbul, der zwei Wahlen in Folge gewonnen hatte, als Rivale gegen Erdoğan antrat, wurde er zunächst mit einer Reihe von Ermittlungen überzogen und versucht, vor der Öffentlichkeit als Krimineller dargestellt zu werden. Im März begann man dann, ihn mit konstruierten Akten vor Gericht zu stellen.
Die Regierung Erdoğan versucht, den Istanbuler Oberbürgermeister E. İmamoğlu von der bürgerlichen Oppositionspartei CHP, der ihrer Meinung nach bei einer normalen Wahl das Präsidentenamt gewinnen würde, zu blockieren und ihn aus der Politik auszuschließen. Am 18. März wurde, nachdem die Fakultätsverwaltung sich dieses Schrittes verwehrt hatte, İmamoğlus Universitätsdiplom von vor 30 Jahren, das Voraussetzung für seine Präsidentschaftskandidatur ist, vom Verwaltungsrat der Universität Istanbul unbefugterweise aberkannt. Am 19. März wurde İmamoğlu zusammen mit etwa 100 Personen, darunter den Bürgermeistern zweier Istanbuler Kommunen und seinem Führungsteam in der Großstadtkommune, festgenommen und inhaftiert. Der Grund für die Verhaftung wiederum ist lächerlich: Während sich die Korruption von Erdoğan und seinem Umfeld, einschließlich der AKP-geführten Kommunen, auf Milliarden von Dollar beläuft und Erdoğan – der sein politisches Leben als Beamter in der Istanbuler Kommune begann – zu einem der reichsten Männer der Welt geworden ist, wäre es nur in einem Ein-Mann-Regime möglich, seinen Hauptkonkurrenten der Korruption zu bezichtigen.
Damit wollte die Ein-Mann-Regierung nicht nur İmamoğlu, der ein gefährlicher Rivale von Erdoğan war, ausschalten, sondern auch die von ihr bis 2019 mit großer Korruption und Spekulation mit Grundstücken, Immobilien usw. regierte IBB [Istanbuler Großstadtkommune, Anm. d. Verf.] mit ihren großen Besitztümern, wirtschaftlichen, finanziellen usw. Möglichkeiten durch einen von ihr ernannten Zwangsverwalter an sich reißen und diese Möglichkeiten dem Kapital ihrer Gefolgschaft und den von ihnen zu ernennenden eigenen Männern wieder zugänglich machen.
Das Palastregime der Ein-Mann-Regierung fing nicht erst mit der Großstadtkommune von Istanbul an, Bürgermeister abzusetzen und einen Gouverneur oder einen Bezirksgouverneur als Zwangsverwalter einzusetzen, um die Kontrolle über bei Wahlen verlorene Kommunen und ihre Einrichtungen wiederzuerlangen. Allein im letzten Jahr hat das Palastregime in dreizehn Kommunen Zwangsverwalter eingesetzt. Zu diesen Kommunen gehören DEM-Partei-geführte Kommunen in kurdischen Provinzen wie Hakkari, Van, Mardin, Batman, Siirt und Istanbuler Kommunen wie Esenyurt und Şişli. Das Absetzen gewählter Kommunalverwalter und ihre Ersetzung durch Männer der Ein-Mann-Regierung richtet sich zweifellos nicht nur gegen die gewählten Kommunalverwalter und ihr Recht, gewählt zu werden, sondern hebt auch das Wahlrecht des Volkes, der Arbeiter und Werktätigen, die sie gewählt haben, faktisch auf und ersetzt den Volkswillen des durch den Willen des einen Mannes und seiner Regierung, die das Land mit den von ihnen Eingesetzten regieren will!
Die Ein-Mann-Regierung plante, nicht nur in Istanbul, sondern auch in Ankara und einer Reihe anderer großer und wichtiger Städte, die von der bürgerlichen Opposition gehalten werden, Zwangsverwalter einzusetzen. Sie plante auch, den letzten Parteitag ihres Hauptkonkurrenten CHP, auf dem dessen derzeitige Führung gewählt wurde, mit der Behauptung der Fehlerhaftigkeit annullieren zu lassen. Sie rechnete damit, die sie bedrohende Gefahr zu beseitigen, indem sie die Partei mit einem von ihr ernannten Zwangsverwalter zu einem neuen Parteitag führt und dort eine neue, mit ihrer Ein-Mann-Regierung verträgliche Führung wählen lässt. Ihr Ziel war es, den Aufbau eines faschistischen politischen Regimes zu vollenden, das auch die Wiederwahl von Erdoğan zum Präsidenten unter Bedingungen sichern würde, bei denen sie glaubte, dass die ausgebeuteten und unterdrückten Massen eingeschüchtert und ihre Kämpfe unterdrückt werden würden. Dies war der Plan der Ein-Mann-Regierung, als İmamoğlu verhaftet wurde.
Die AKP und ihr faschistischer Koalitionspartner MHP konnten keinen anderen Weg und kein anderes Mittel finden, um das Ein-Mann-Regime unter den Bedingungen der sich rapide verschlechternden Arbeits- und Lebensbedingungen und der zunehmenden Unzufriedenheit und Widerstands der ausgebeuteten und unterdrückten Massen, was die Grundlage für ihren relativ schnellen Verlust der Massenunterstützung bildet, aufrechtzuerhalten. Was sie taten, war, Repression und Tyrannei zu verstärken.
Erdoğans intensiviertes Ausbeutungssystem, den er mit seinem in Korruption versunkenen Monopolismus errichtete, begann Mitte der 2010er Jahre zu straucheln. Im Sommer 2018 geriet die Türkei in eine Wirtschaftskrise, die sich teilweise bis 2019 hinzog. Während im vergangenen Jahr die Industrieproduktion und das Wirtschaftswachstum zwei Quartale lang ein negatives Wachstum aufwiesen, traten sie auf das ganze Jahr betrachtet auf der Stelle. Während die Industrieproduktion und die Wirtschaft auf einem instabilen Kurs mit Höhen und Tiefen waren, führte die auf billige Arbeitskräfte und Exporte ausgerichtete Wirtschaftspolitik zu einem erheblichen Rückgang des Anteils der Arbeiter und Werktätigen am Gesamteinkommen des Landes. Die hohe Inflation, die durch die Finanz- und Wirtschaftspolitik Erdoğans angeheizt wurde, hat die sinkenden Reallöhne und -einkommen vollends absacken lassen. In drei Jahren ist der Anteil der Arbeit am BIP um 5 Prozentpunkte gesunken. Der mittlerweile zum Durchschnittslohn gewordene Mindestlohn liegt nun unter der Hungergrenze. Die Arbeiter, denen in den Tarifverträgen des öffentlichen Dienstes Lohnerhöhungen um 20 Prozentpunkte unter der offiziellen Inflation aufgezwungen wurden – während die reale Inflation doppelt so hoch war -, haben nur in Ausnahmefällen durch hart erkämpfte Streiks, von denen viele verboten und von Polizei und Gendarmerie angegriffen wurden, Lohnerhöhungen oberhalb der Inflation erhalten. Die Durchschnittsrente ist desaströs, nur 368 Dollar, was nicht einmal für Lebensmittel ausreicht, wenn die niedrigste Miete beispielsweise in Istanbul 600-700 Dollar beträgt! Die Landwirtschaft, abgesehen von der großen kapitalistischen Landwirtschaft, liegt brach, da die meisten Bauern aufgrund der fehlenden Rentabilität nicht in der Lage oder willens sind, Ackerbau zu betreiben.
Und während die Banken und Monopole hohe Gewinne machen, weiß jeder, dass Erdoğan mit der Aussage „uns fehlen die Quellen“ das Geld, das er den Arbeitern, Werktätigen und Rentnern nicht einmal mit einer zumindest die Inflation auffangenden Erhöhung gibt, reichlich mit Steuersenkungen und -nachlässen, Anreizen und Staatsgarantien an die Betreiber der von ihm ausgeschriebenen Brücken und Flughäfen mit dem „Betreibermodell“ verteilt, was die Unzufriedenheit der ausgebeuteten Massen maximiert hat.
Vor allem seit den Kommunalwahlen 2024 hat Erdoğan, der sieht, dass sich sowohl die wirtschaftlichen als auch die politischen und sozialen Bedingungen zu seinen Ungunsten entwickeln, seine Aggression verstärkt, da er dies als einzigen Weg zum Machterhalt ansieht. Er versucht, seine Macht durch die Justiz, die er politisiert und unter seine Kontrolle gebracht hat, zu schützen und er kann das Land nun unter einem nicht ausgerufenen Ausnahmezustand regieren, in dem er jede noch so kleine Einforderung von Rechten angreift, Streiks verbietet und sogar schon bei kritischen Tweets Verhaftungen vornimmt.
Gegen Ende des Jahres intensivierte er die Absetzung und Verhaftung von Lokalverwaltern in den von der kurdischen Nationalbewegung unmittelbar nach den Kommunalwahlen im März 2024 gewonnen Kommunen, um sie durch als Zwangsverwalter eingesetzte Gouverneure und Bezirksgouverneure zu ersetzen. Damit versucht er einerseits, die Lage seiner politischen Konkurrenten zu erschweren und deren Handlungsspielraum einzuschränken, andererseits die politischen, wirtschaftlichen und finanziellen Möglichkeiten der unter seine Kontrolle gebrachten Lokalverwaltungen – einschließlich der Beschlagnahmung jeglicher Gewinne – im Sinne seiner eigenen Interessen zu nutzen. Die Ein-Mann-Regierung hat die Zwangsverwaltungspolitik von den Kommunen der kurdischen Opposition ausgehend auf die Kommunen der bürgerlichen Hauptoppositionspartei CHP ausgedehnt und ist dann dazu übergegangen, İmamoğlu, den Hauptkonkurrenten um die Präsidentschaftskandidatur, zu belagern und des Amtes zu entheben.
Seit 2015, und besonders in den letzten Jahren, arbeitet Erdoğan eng mit der ältesten und mächtigsten faschistischen Partei der Türkei am Aufbau einer faschistischen Diktatur durch die Faschisierung seines Ein-Mann-Regimes zusammen.
Erdoğan, der seit dem Referendum von 2017 alle Macht in seinen Händen konzentriert hat, regiert das Land mit einem System der „Ein-Mann-Regierung“, dem sogenannten „Präsidialverwaltungssystem“, in dem er das Parlament schrittweise funktionsunfähig macht und zugunsten der Exekutive aushebelt, die Verwaltungsinstitutionen hierarchisch selbst ernennt und die Justiz an die Exekutive bindet, indem er Richter entlässt, die unliebsame Entscheidungen treffen, – mit Gesetzen, die er zusammen mit der knappen Mehrheit zusammen mit seinem Partner MHP im Parlament verabschiedet, und mit Dekreten, die zumeist mit nur seiner Unterschrift erlassen werden – und ohne jeder Kontrolle zu unterliegen. Während er selbst diese Regierungsform für unzureichend hält und eine neue Verfassungsänderung anstrebt, ist er dazu übergegangen, diese mit in den letzten Jahren ständig erlassenen, neuen reaktionären Gesetzen zu verstärken.
Eines seiner jüngsten Gesetze, die Erneuerung des Gesetzes über das Staatliche Aufsichtsgremium, gibt Erdoğan beispielsweise die Befugnis, mittels Entscheidungen – ohne jegliche gerichtliche Entscheidung oder Aufsicht – dieses Gremiums, das er direkt selbst ernennt, alle zentralen und lokalen Staatsbediensteten zu entlassen und durch neue „parteiische“ Bedienstete zu ersetzen. Mit diesem neuen Gesetz ist das Gremium nicht nur befugt, Staatsbedienstete zu entlassen und neue zu ernennen, sondern auch die Leiter und Mitarbeiter von Berufsorganisationen wie Gewerkschaften, Genossenschaften, Anwalts- und sonstige Kammern abzusetzen und zu ersetzen. Neben der Politik und Praxis der Zwangsverwaltung ist dies ein weiterer Schritt zur Faschisierung der Verwaltung und zur Verfestigung des Palastregimes und der faktischen Abschaffung des aktiven und passiven Wahlrechts. Ein weiteres Beispiel ist, dass das von Erdoğan erlassene, aber auf Einspruch der CHP vom Verfassungsgericht aufgehobene Gesetz „zur Bestrafung derjenigen als Terroristen, die nicht Mitglied einer terroristischen Organisation sind, aber mit ihr in Verbindung stehen oder Handlungen zu ihren Gunsten vornehmen, wie zum Beispiel Ideen und Meinungen in diese Richtung verbreiten“ wieder auf der Tagesordnung steht.
Erdoğans Palastregierung, die als Ein-Personen-Entscheidungsinstanz fungiert, führte in diesem Prozess einen weiteren geplanten Angriff durch. Die von „Friedens“-Propaganda begleitete jüngste kurdische Initiative wurde nicht nur durch die internationalen und insbesondere regionalen Entwicklungen, sondern auch als Element des Versuchs der Faschisierung des Regimes auf die Tagesordnung gesetzt. Indem Erwartungen einer Lösung der kurdischen Frage geweckt werden, sollten die kurdische Nationalbewegung und das kurdische Volk eingespannt oder zumindest ein Teil von ihnen von der sich bildenden Front gegen das Ein-Mann-Regime ferngehalten werden. Dies ist das Kalkül des von Erdoğan geführten Palastregimes, aber ob dieses Kalkül aufgeht oder nicht, ist eine andere Frage, doch die Zeichen dafür stehen nicht gut.
Der Versuch der Regierung, mit dem Schachzug der juristischen Operation İmamoğlu, der eine Gefahr für Erdoğans Präsidentschaft darstellt, aus der Politik zu drängen und zu kriminalisieren, die CHP, die sie als ihren engsten Konkurrenten betrachtet, in eine mit ihr kompatible Opposition und ihr Regime in ein faschistisches zu verwandeln, reiht sich in die seit langem als Bestandteil dieser Ausrichtung andauernden Versuche ein, die Opposition zu spalten.
Sie versucht, die Zankereien zwischen der alten und der neuen, nach den Parlamentswahlen 2023 gewählten CHP-Führung zur Spaltung der CHP zu nutzen. Mit dem gleichen Ziel, versucht sie auch, die Konkurrenz zwischen den Bürgermeistern von Istanbul und Ankara auszunutzen, die beide seit langem sich für die Präsidentschaftskandidatur bereit machen und in den Umfragen vor Erdoğan liegen.
Ein weiterer Versuch, die Opposition zu spalten, wird über die Kurdenfrage unternommen: Vom Chef der faschistischen AKP-Partnerpartei MHP Anfang Oktober wurde der PKK-Führer Öcalan aufgefordert, seine Organisation zu entwaffnen und aufzulösen, und dies als „Friedensaufruf“ dargestellt, wodurch man versuchte, in der kurdischen Bewegung, die bei den letzten Kommunalwahlen mit der CHP zusammenarbeitete, Erwartungen zu wecken.
Der „Prozess“, der angeblich auf einen Frieden mit den Kurden abzielt, aber nicht einmal „Friedensprozess“ genannt wird, und bei dem die Regierung mit der Begründung, dass „mit Terroristen nicht verhandelt wird“, keinerlei Verpflichtung eingegangen ist, irgendwelche nationalen Rechte der Kurden anzuerkennen, wird durch Gespräche mit dem seit langem in einem Sondergefängnis inhaftierten Öcalan geführt und ist darauf ausgelegt, die kurdische Opposition von der gesellschaftlichen Opposition zu isolieren. Der vom Ein-Mann-Regime über den MHP-Chef ausgerufene „Prozess der Selbstauflösung und Kapitulation der PKK“ wurde auf die Tagesordnung gesetzt, um 1) in Erwartung der Entwicklungen in Syrien „die äußere Front zu stärken“, indem die Rojava-Kurden passiviert werden und 2) durch Spaltung der Opposition „die innere Front zu stärken“. Ziel ist es, die syrischen Kurden unter Kontrolle zu bringen und durch das sonst für ihre Forderungen folgenlose Gerede von „Frieden“ die kurdische Opposition und die DEM auf die Seite des Regierungsblocks zu ziehen, um eine Verfassungsänderung vornehmen zu können, die Erdoğan eine „Präsidentschaft auf Lebenszeit“ ermöglicht.
*
Während İmamoğlu noch nicht verhaftet worden war, leitete die CHP, um den Schachzug gegen ihn und sich selbst abzuwehren, den politischen Schachzug ein, ihre fast zwei Millionen Mitglieder zu Vorwahlen zur Wahl İmamoğlus zum offiziellen Präsidentschaftskandidaten aufzurufen. Ihr Kalkül, dass ein Präsidentschaftskandidat nicht verhaftet werden würde, ging nicht auf und die Ein-Mann-Regierung ließ İmamoğlus Universitätsdiplom annullieren, ihn festnehmen und verhaften.
Um ihre politische Macht und die Unterstützung ihres Kandidaten durch die Bevölkerung unter Beweis zu stellen, richtete die CHP dieses Mal neben den Urnen für die Vorwahlen auch Solidaritätswahlurnen ein und rief die Bevölkerung auf, ihre Unterstützungsstimmen abzugeben. Unter diesen angespannten Bedingungen erhielt İmamoğlu bei den Vorwahlen die Stimmen fast aller CHP-Mitglieder, während beide Urnen fast 16 Millionen Stimmen zählten.
Den Wendepunkt stellten jedoch nicht die Wahlurnen der CHP dar, sondern der Widerstand des Volkes, der vor allem durch spontane Demonstrationen Ausdruck fand. Die Initialzündung für die explodierende soziale Oppositionsbewegung lieferte zuerst die infolge der Verhaftung von İmamoğlu von kommunistischen und revolutionären Studierenden organisierte Masse von sechs- bis siebentausend Jugendlichen an der Universität Istanbul, der ältesten und traditionsreichsten Universität der Türkei, die mehrere vor ihnen errichtete Polizeibarrikaden durchbrach und eine Demonstration vor dem Gebäude der Istanbuler Großstadtkommune startete, wo auch der CHP-Vorsitzende anwesend war. Die von den außerordentlich schwierigen Lebensbedingungen und Zukunftsangst unzufriedenen Jugendlichen, für die mit der Inhaftierung İmamoğlus das Maß voll war, verwandelten mit direkt gegen die Ein-Mann-Regierung gerichteten Forderungen und Slogans den großen Platz vor der Istanbuler Großstadtkommune in einen Platz des Widerstands. Mit dem Mut, den der Platz, nachdem sich weitere Jugendliche aus anderen Universitäten Istanbuls anschlossen, allen, vor allem der Verwaltung, die bis genau zu dem Punkt noch nicht entscheiden konnte, was sie tun wird, machte, rief die CHP das Volk dazu auf, sich vor der Istanbuler Großstadtkommune, dessen Zwangsverwaltung geplant war, zu versammeln und sie zu verteidigen. Unsere Partei und einige revolutionäre Parteien hatten ohnehin bereits dazu aufgerufen, sich in Saraçhane, dem Sitz der Stadtverwaltung, zu versammeln. Mit auch von anderen bürgerlichen Oppositionsparteien unterstützten Aufrufen war der Platz vor der Stadtverwaltung eine Woche lang Tag und Nacht Schauplatz von Demonstrationen, von denen die kleinste von nicht weniger als einer halben Million Menschen besucht wurde.
Am ersten Tag der Demonstrationen vor der Stadtverwaltung übergab der CHP-Vorsitzende, bevor er sich vom CHP-Wahlkampfbus aus an das Volk wandte, das Mikrofon an ein Mitglied des Zentralvorstands der Jugendorganisation unserer Partei, von der er gesehen hatte, dass sie die zuerst auf den Platz strömenden Jugendlichen der Universität Istanbul anführt. Der CHP-Vorsitzende wandte sich dann an die auf dem Platz versammelte, durch die Rede unserer Genossin, die auf den Aufruf zum „Generalstreik, Generalwiderstand“ endete, befeuerte Masse. Obwohl die Polizei am selben Tag im Morgengrauen 200 Jugendliche in Istanbul, darunter auch unsere Genossin, festnahm und verhaftete, war der Stein bereits ins Rollen gekommen.
Die kritische Schwelle wurde überschritten, als der Funke, der durch den von der Jugend der Universität Istanbul initiierten Marsch und die Demonstration entzündet wurde, sich rasch zunächst auf die Universitäten und allmählich auf die Masse des Volkes ausbreitete, und es war der entschlossene Widerstand der Massen, der sich durch die Überwindung der Polizeibarrikaden entlud, der den geplanten Kurs in Richtung Faschismus aufhielt und das Kalkül, die Istanbuler Großstadtkommune unter Zwangsverwaltung zu stellen, durchkreuzte. Die CHP hebt in erster Linie die fast 16 Millionen Stimmen in ihren Wahlurnen hervor, aber es sei darauf hingewiesen, dass ohne die jüngsten Massendemonstrationen weder die Aufstellung der Wahlurnen möglich gewesen noch die Zwangsverwaltung von IBB und CHP verhindert worden wäre.
Die Demonstrationen, die an der Universität Istanbul begannen, breiteten sich – nachdem trotz Zusammenstößen aufgrund harter und intensiver Polizeimaßnahmen an manchen Universitäten wie der ODTÜ [Technische Universität des Nahen Ostens, Anm. d. Verf.] bei einem bedeutenden Teil ihrer nicht interveniert werden und sie somit nicht verhindert werden konnte – auf die großen Universitäten des Landes, zunächst in Istanbul und dann insbesondere in Ankara und Izmir, aus und dann, mit Ausnahme einiger weniger Provinzen, auf das ganze Land und auf das ganze Volk, wodurch die Pläne und Rechnungen von Erdoğan und seiner Regierung durchkreuzt wurden. Trotz der Verhaftung von İmamoğlu und der Übernahme der Verwaltung zweier wichtiger Kommunen Istanbuls gelang es der Ein-Mann-Regierung nicht, ihre Hauptziele, zu denen mit der Übernahme der Verwaltung der Istanbuler Großstadtkommune und der Annullierung des letzten Parteitags der wichtigsten Oppositionspartei, der Absetzung ihrer Führung und ihr Austausch durch ernannte, eigene Leute, gehören, die neue und vielleicht letzte Schritte zum Aufbau des Faschismus darstellen, zu erreichen.
*
Gegenwärtig können wir von vier Hauptdynamiken des Kampfes im Lande sprechen.
Die erste ist die Arbeiterbewegung, die, obwohl sie die objektive Basis unserer Partei ist, die zur Vereinigung mit ihr neigt, und die Hauptkraft radikaler sozialer Veränderungen im Land ist, unzureichend organisiert ist, aber sich mit ihren Forderungen nach insbesondere sozialen, wirtschaftlichen – allen voran Lohn –, Gewerkschafts- und zunehmend auch politischen Freiheitsrechten usw. entwickelt. Noch entwickelt sie sich lokal, die Tendenz, sich auf nationaler Ebene zu vereinigen und zu zentralisieren, ist leider schwach. Die Losung „Generalstreik, Generalwiderstand“, die unsere Partei seit einiger Zeit als Propagandaparole herausgibt, hat jedoch begonnen, in der aufstrebenden sozialen Bewegung geäußert zu werden und eine gewisse Verbreitung zu finden.
Die zweite ist eine Massenbewegung der Jugend, obwohl die Tendenz, sich mit der Arbeiterbewegung zu vereinigen, noch nicht sehr stark ist, und die bisher gewaltsam unterdrückt wurde, die unter den Bedingungen des Aufstiegs der sozialen Opposition, derer sie den Weg ebnet, indem sie ihr vorangeht, und zugleich ihre wichtigste Massenbasis und Kraft auf der Straße darstellt, an Kraft und Geschwindigkeit gewinnt und in fast allen Universitäten des Landes auf dem Vormarsch ist. Die Jugend, die sich die Polizeibarrikaden an einer Reihe von Universitäten, darunter der Universität Istanbul, überwindend in Bewegung gesetzt hat, hat sich als eine wichtige Massenbasis für die oppositionellen Demonstrationen und Protesten gegen das Regime an ihnen beteiligt, und tut dies auch weiterhin. An den meisten Universitäten des Landes, an denen Boykottaktionen nun auch unter Beteiligung von Lehrbeauftragten auf der Tagesordnung stehen, ist sie nun in der Lage, sich in den einzelnen Fakultäten in Boykott- und Widerstandskomitees zu organisieren, sich, wenn auch noch nicht stark genug, auf Universitätsebene zu zentralisieren und sich unter den Universitäten zu koordinieren.
Die dritte ist die systemkonforme, bürgerliche Opposition, die in dem Maße, wie der Kampf um das Regime an Bedeutung gewinnt, in der Lage ist, andere bürgerliche Oppositionsparteien, die konservative Organisationen sind, mitzuziehen, sich aus bürgerlichen Demokraten und ideologisch reaktionären Tendenzen und Personen zusammensetzt, einen ausgeprägten Nationalismus aufweist und hauptsächlich von der CHP vertreten wird. Sie stellt sich in einem noch nie dagewesenen Ausmaß gegen das Regime, da auch sie vom Ein-Mann-Regime ins Visier genommen wird und vor allem, weil sie keine andere Wahl hat.
Angesichts des Ein-Mann-Regimes, das es offenbar alle Brücken zwischen ihnen einreißend auf sie und ihren Präsidentschaftskandidaten abgesehen hat, scheint auch sie alle Brücken eingerissen zu haben und in einen Kampf auf Leben und Tod eingetreten zu sein. Wie nie zuvor werden die Reden und Aufrufe verschiedener Führer, angefangen beim Vorsitzenden, kriminalisiert, darüber berichtende Fernsehsender geschlossen, darüber schreibende Journalisten inhaftiert oder verhaftet, und ihre Demonstrationen und Kundgebungen von Gouverneuren verboten. Diese Partei, deren Präsidentschaftskandidat inhaftiert ist und deren Parteitagen droht, als unrechtmäßig eingestuft und annulliert zu werden, sah sich mit dem klaren Ziel, die Kontrolle zu behalten, gezwungen, zu versuchen, sich mit dem Volk zu vereinigen und es entgegen ihrer bisherigen Praxis auf die Straße zu rufen.
Die vierte ist die kurdische nationale Opposition mit ihrem bürgerlich-demokratischen Charakter, deren Kampf für die Gleichheit der nationalen Rechte von unserer Partei unterstützt wird.
Was die Opposition anbelangt, so gibt es heute in der Türkei drei Oppositionszentren: Die erste ist die revolutionäre Opposition, zu der auch unsere Partei gehört, die zweite ist die türkisch-nationalistische, reformistische, bürgerliche Opposition und die dritte ist die nationalistische kurdische Opposition.
Wie zu erwarten ist, sind die Forderungen, Programme und Ansätze aller drei Oppositionszentren unterschiedlich. Während unsere Partei für eine antiimperialistische und dem Sozialismus offene Volksdemokratie und -herrschaft eintritt und zu diesem Zweck eine Kampflinie verfolgt, die auf den dringenden wirtschaftlichen und demokratischen Forderungen der Arbeiter und Werktätigen beruht, beschränkt sich das Ziel der bürgerlichen Oppositionspartei CHP darauf, Erdoğan und sein Ein-Mann-Regime zu verändern, und sieht vor, es durch das bekannte parlamentarische Regime zu ersetzen, mit der Behauptung, dass es „gestärkt werden“ soll. Die kurdische Opposition hingegen stellt die Forderung nach Gleichheit der nationalen Rechte in den Vordergrund, und diese „Priorisierung“ äußert sich in der Regel darin, wie auch heute die Augen vor anderen Forderungen entweder ganz zu verschließen oder sie sehr weit zurückzustellen.
Wie in Istanbul hatte die Zwangsverwaltungspolitik, die sich gegen die bürgerliche Opposition richtete und im Eigentlichen darauf abzielte, den Volkswillen durch die Missachtung des Wahlrechts auszuhebeln, die kurdische Nationalbewegung noch viel früher ins Visier genommen. In fast zehn der von ihr regierten Kommunen, insbesondere in den kurdischen Provinzen, wurden Zwangsverwalter eingesetzt. Die kurdisch-nationale Opposition, deren bewaffnete Kräfte weiterhin angegriffen werden, denen keinerlei Versprechungen zur Erfüllung ihrer spezifischen nationalen Forderungen gemacht werden und die bis vor kurzem mit der bürgerlichen Opposition in den Reihen der Opposition kooperierte, fühlt sich aus all diesen Gründen der gesellschaftlichen Opposition nahe, was auch durch ihre beiden Ko-Vorsitzenden ausgedrückt wurde, die angesichts der jüngsten Unrechtmäßigkeiten und Angriffe ihre Unterstützung für die Opposition erklärten. Die kurdisch-nationale Opposition als Organisation hat sich jedoch bisher nicht in vollem Umfang an der sozialen Opposition und an Demonstrationen und Protesten beteiligt – wenngleich auch viele Kurden individuell an sozialen Protesten und Demonstrationen teilnehmen. Obwohl die kurdisch-nationale Opposition die Aufrufe der faschistischen Partei übertrieben hat und in Erwartung des Friedens zaghaft geworden und untätig geblieben ist, lässt sich sagen, dass sie nicht völlig auf das Spiel des „Friedensprozesses“ des Ein-Mann-Regimes hereingefallen ist.
Der Antiimperialismus ist auf die revolutionäre Opposition beschränkt. Die Armut und das Elend, in das das Volk gestürzt wurde, hat die bürgerliche Opposition dazu veranlasst, einige dringende Forderungen des Volkes zu benennen, die jedoch nur darauf abzielen, die Volksmassen an sich zu binden. Andererseits ist der Sturz des Ein-Mann-Regimes und das Zurückschlagen des Versuchs der Errichtung einer faschistischen Diktatur zweifelsohne auch die Angelegenheit unserer Partei. Heute zielt der Kampfprozess, in dem die CHP wirksam ist, auf das Ende des Ein-Mann-Regimes ab, und das Zurückschlagen der Angriffe des Palastregimes und ihre Beseitigung ist eine Forderung, die alle drei Oppositionszentren zu einem gemeinsamen Kampf zusammenführt.
Das Ziel der CHP, dessen Agitation auch ein Ende von Armut und Elend umfasst, ist die Beendigung der Erdoğan-Herrschaft, ohne den Imperialismus, die Monopole und das Ausbeutungssystem anzutasten. Sie hebt die Forderung nach politischer Demokratie, deren Kern die Gleichheit vor dem Gesetz ist, und den Kampf gegen Ungerechtigkeit und Gesetzlosigkeit hervor. So lautet ihr Hauptslogan: „Recht, Justiz, Gerechtigkeit“. Die CHP fordert Recht, Gesetz und politische Demokratie im Grunde für sich selbst und ihren Kandidaten İmamoğlu angesichts der Ungerechtigkeiten und des Unrechts, die sich gegen seine Bürgermeister als auch ihn und seinen Präsidentschaftskandidaten richten. Um das Volk hinter sich zu bringen, ist sie jedoch gezwungen zu behaupten, dass „das Problem nicht auf İmamoğlu beschränkt, sondern das Problem die Wahlfreiheit des Volkes ist“, und kommt um eine, wenn auch auf das politische Feld beschränkte, Verallgemeinerung nicht herum. Aber selbst im Falle der Verallgemeinerung versucht sie die gegen İmamoğlu gerichtete Ungerechtigkeit mit der politischen sowie sozialen Entrechtung, mit der das Volk konfrontiert ist und den noch deutlich darüber hinausgehenden sozialen Ungerechtigkeiten auf eine Stufe zu stellen sowie das Volk mit İmamoğlu gleichzusetzen, um sie als eine Masse zu konstruieren, die zu seiner Verteidigung verpflichtet und verdammt sind.
Andererseits ist Ungerechtigkeit zweifellos ein Problem der Arbeiter und Werktätigen und natürlich auch unserer Partei, und wir unterstützen die Forderung nach Recht und Gerechtigkeit gegen die Verweigerung der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rechte der Werktätigen. Es liegt jedoch auf der Hand, dass die magere Forderung nach Gerechtigkeit allein nicht ausreicht, um das Volk, das sich in den letzten zehn Tagen in mehr als 70 Städten zu Millionen erhoben hat, zu mobilisieren, wäre es nicht zum Hungertod verurteilt von tiefgreifenderen Problemen erdrosselt. Es besteht kein Zweifel, dass die Hauptantriebskraft hinter der Mobilisierung des Volkes, mehr als die Ungerechtigkeiten und das Unrecht, die Arbeits- und Lebensbedingungen waren, die die Unzufriedenheit und den Widerstand der Werktätigen hervorrufen und sie am Hungertuch nagen lassen. Die unerträgliche Härte der Arbeits- und Lebensbedingungen fügt der Forderung nach Gerechtigkeit, die eine der treibenden Kräfte des Kampfes gegen die Erdoğan-Herrschaft ist und die Gleichheit vor dem Gesetz in der formalen Demokratie bedeutet, die Forderung nach Brot hinzu und macht es notwendig, dass der Widerstand sich auf die dringenden Forderungen des Volkes stützt.
Der Grund für den massenhaften Aufstieg der gesellschaftlichen Opposition sind in Wirklichkeit die schwierigen Arbeits- und Lebensbedingungen des Volkes, das seine dringenden wirtschaftlichen, sozialen und politischen Forderungen unabdingbar gemacht hat und ist zugleich die größte Schwäche der aufstrebenden gesellschaftlichen Bewegung: Die Volksmassen haben sich über ihre dringenden Forderungen in den Kampf geworfen, doch sind sie mit den systemimmanenten Denk- und Wahrnehmungsweisen sowie der Unsicherheit über die eigene Macht auf der Straße gegen das Unrecht, das İmamoğlu erlitten hat, den die reformistische bürgerliche Opposition versucht, mit dem vom Volk erlittenen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Ungerechtigkeiten gleichzumachen. Leider sind sich die ausgebeuteten und unterdrückten Massen, in denen die Auffassung, „wenn İmamoğlu dieses Unrecht angetan wird, was kann mir nicht alles passieren“ vorherrscht, noch nicht bewusst, dass die wirkliche verändernde Macht in ihnen selbst und ihrem Kampf liegt und dass sich dieser Kampf auf der Grundlage der Lebens- und insbesondere der Arbeitsbereiche, der Betriebe entfalten kann.
Die wichtigste Schwäche der Bewegung besteht derzeit neben dem fehlenden Bewusstsein darin, dass die Arbeiterklasse nicht als eigenständige Kraft durch ihre Organisation und ihren Kampf in den Fabriken und Betrieben an der sozialen Bewegung teilnimmt und dass der Kampf für die unmittelbaren Forderungen der ausgebeuteten Massen nicht mit dem Kampf gegen die Palastherrschaft und ihre Angriffe verbunden ist. Dies ist eine Voraussetzung für die Beteiligung immer breiterer Schichten der Massen am Kampf und dessen erfolgreiche Entwicklung.
Was unsere Partei mit der Propaganda-, Agitations- und Organisationsarbeit, die sie vor allem in den Betrieben intensiviert, um die Arbeiterklasse im Kontext der aufsteigenden sozialen Bewegung mit Klassenbewusstsein auszustatten, zu erreichen versucht, ist vor allem die Überwindung dieser Schwäche: Während die Speerspitze des Kampfes der ausgebeuteten und unterdrückten Volksmassen auf den Sturz des Ein-Mann-Regimes durch die Verhinderung der Faschisierung gerichtet ist, den Kampf, ausgehend von den unmittelbaren Forderungen in den Betrieben, auf den Kampf gegen die Herrschaft der Monopole, auf die Beendigung der monopolistischen Ausbeutung und Zumutungen und der imperialistischen Herrschaft auszudehnen.
Heute werden das Wohl und der Erfolg oder Misserfolg der sozialen Bewegung davon abhängen, ob die ausgebeuteten Massen den Kampf für ihre eigenen dringenden Forderungen in den Betrieben aufnehmen, um der Bewegung ihren eigenen Stempel aufzudrücken. Unsere Partei ist dabei natürlich auch auf der Straße und beteiligt sich an den Straßenprotesten, insbesondere mit ihrer Jugend. Da andererseits Protestaktionen für einen Regimewechsel nicht ausreichen, hat sie ihre Losung „Generalstreik, Generalwiderstand“ einen Schritt zurückgestellt – ohne dabei völlig aufzugeben und aufzuhören, sondern die Propaganda und Agitation einen Schritt weiter zu bringen – und es den konkreten Entwicklungen überlassen, ob diese Losung zum Aktionsslogan wird, und sich heute hauptsächlich auf die Mobilisierung der Klasse durch dringende Forderungen in den Betrieben konzentriert, um dadurch die erwähnte Hauptschwäche der Bewegung zu beseitigen. Dies sind auch die konkrete Notwendigkeit und der Weg zur Verwirklichung dieser Losung.
Die bürgerlich-reformistische Opposition beharrt auf der Bedeutung von Wahlen und Urnengängen und behauptet, dass in anderen Ländern „autokratische Regime durch Volksaufstände gestürzt wurden, aber in unserem Land ein Exempel des gewaltlosen Machtwechsels geschaffen wird“.
Die kurdische Opposition kann gegenüber der Forderung und dem Kampf ums Brot nicht gleichgültig bleiben, da die kurdischen Armen, die ihre Basis bilden, zu denjenigen gehören, die am meisten von den außerordentlich schlechten und schwierigen Arbeits- und Lebensbedingungen betroffen sind. Darüber hinaus ist zu betonen, dass die Tatsache, dass die Forderung und der Kampf für die Gleichheit der nationalen Rechte ein Aspekt und Teil der allgemeinen Gleichberechtigung sowie der Demokratisierung des Landes ist, der wichtigste Faktor ist, der die DEM-Ko-Vorsitzenden dazu veranlasst hat, ihre Unterstützung für die laufende soziale Opposition zu erklären. Die kurdische Bewegung, die sich aufgrund der regionalen wie internationalen Entwicklungen mit Problemen und nicht zu unterschätzenden Bedrohungen konfrontiert sieht, zögert noch, sich der antifaschistischen sozialen Bewegung anzuschließen, wobei sie die Nützlichkeit der so genannten „Friedens“-Aufrufe des regierungsbildenden AKP-MHP-Bündnisses und die Möglichkeit einer „positiven“ Versöhnung mit dem Ein-Mann-Regime in Bezug auf die kurdische Frage in Betracht zieht, und denkt, dass ihre Priorität nicht darin besteht, sich dem antifaschistischen demokratischen Kampf anzuschließen, sondern den „gesellschaftlichen Frieden“ zu erreichen, von dem sie glaubt, dass er zusammen mit dem Ein-Mann-Regime, gegen das dieser Kampf gerichtet ist, realisierbar sei.
*
Während die Arbeits- und Lebensbedingungen, die die ausgebeuteten und unterdrückten Massen zum Kampf treiben, immer unerträglicher werden, äußert sich der Widerstand auf nationaler Ebene, der unter den derzeitigen Bedingungen sich parallel zu den Kampftendenzen verschärfenden Tyrannei zunimmt und nicht nachlässt, in der Parole „Schluss mit der Erdoğan-Herrschaft“ („Tayyip, zurücktreten“) und hat sich mit Protesten, Demonstrationen und Universitätsboykotten im ganzen Land entwickelt. Es ist der Wunsch der Mehrheit des Volkes der Türkei, Erdoğan und seine Regierung loszuwerden, die nicht nur ihren Hauptkonkurrenten um das Präsidialamt, İmamoğlu, ausschalten, sondern auch eine faschistische Diktatur errichten wollen, indem sie die Opposition und die gesamte Bevölkerung mundtot machen. Davon zeugen die Hunderttausenden, die trotz Versammlungs- und Demonstrationsverboten durch die Gouverneure sowie Straßensperrungen sich eine Woche lang täglich vor dem Istanbuler Rathaus versammelt sowie die Demonstrationen, die im ganzen Land stattgefunden haben.
Die Tyrannei der Regierung beantwortete das Volk mit dem Strömen auf die Straßen, das dazu im Wesentlichen durch die Erkenntnis ihrer eigenen Stärke, als es auf die Straße ging, ermutigt wurde, erleichtert durch den vielleicht zum ersten Mal in ihrer Geschichte getätigten Aufruf des durch die Jugend ermutigten Führers der sich als „Staatsgründerpartei“ rühmenden CHP, auf die Straße zu gehen und die Barrikaden zu überwinden. In fast allen Städten des Landes herrscht eine Atmosphäre des Widerstands, während der unter gegenseitigem Kräftemessen ausgetragene Prozess der Zermalmung der sozialen Opposition durch das Ein-Mann-Regime und der Widerstand der Opposition gegen die Tyrannei kritische Tage durchläuft.
Der CHP-Vorsitzende Özel verkündet, dass „der juristische Putsch gegen das Volk und sie selbst zurückgeschlagen wurde“, was nicht stimmt. Es stimmt, dass der antidemokratische Schritt des Ein-Mann-Regimes bekämpft wird, doch der „Putsch“ ist noch lange nicht abgeschlagen, im Gegenteil, der Kampf hat gerade erst begonnen.
Während das Erdoğan-Regime bei den Demonstrationen mit zehn- und hunderttausenden Teilnehmern nicht intervenierte, dafür bei kleineren Demonstrationen mit Giftwasser und Gummigeschossen eingriff, verfolgt es die Strategie, die Teilnehmer und vor allem die Anführer der Demonstrationen ausfindig zu machen, mitten in der Nacht und im Morgengrauen ihre Häuser zu stürmen, sie festzunehmen und zu verhaften. Anfang April überstieg die Zahl der Festnahmen in der gesamten Türkei zweitausend, und 316 von ihnen, meist junge Leute, wurden verhaftet. Etwa 40 Kämpfer unserer Partei wurden festgenommen, 8 wurden verhaftet. Manche stehen unter Hausarrest und manche sind zur Fahndung ausgeschrieben.
Die AKP, die vor fünf bis zehn Jahren wegen ihrer Angriffe unter anderem von der EU heftig kritisiert wurde, aber unter den heutigen internationalen Bedingungen frei und unbekümmert agieren kann, kontrolliert zusammen mit ihrem Partner MHP neben ihrer noch bestehenden Parlamentsmehrheit die Armee- und die Polizeieinheiten. Bislang hat sie die Polizei nach Belieben eingesetzt, um Demonstrationen und Demonstranten anzugreifen. Auch die Justiz steht unter ihrer Kontrolle. Außerdem zeigen Umfragen, dass das Ein-Mann-Regime immer noch etwa 30 Prozent Unterstützung in der Basis genießt, auch wenn es unter seinen Anhängern Streitigkeiten und Loslösungen gibt. Das Ein-Mann-Regime, das bis vor kurzem die Hauptmasse der Arbeiterklasse mit der Unterstützung der von ihm dominierten Gewerkschaftsbürokratie kontrollierte, hat diesen Luxus innerhalb der Arbeiterklasse verloren. Es hat nicht nur die Kontrolle über große Teile der Arbeiter verloren, die ihrer wirtschaftlichen und sozialen Rechte beraubt und in Existenznot gedrängt wurden, sondern hat auch die Zahl der Arbeiter, die die AKP und die MHP noch verteidigen, stark abgenommen, während eine beträchtliche Anzahl begonnen hat, die Ungerechtigkeiten zu hinterfragen und nicht mehr zu verteidigen, auch wenn sie sich nicht völlig von diesen Parteien abwenden. Wir stehen jedoch immer noch vor der Aufgabe, die Arbeiterklasse nicht nur in die Reihen der sozialen Opposition zu holen, sondern sie als konsequenteste demokratische Kraft und bevölkerungsreichste Gruppe an die Spitze der demokratischen Opposition zu stellen, der sie ihren Stempel aufdrücken soll, denn ohne eine solche Verwandlung der Arbeiterklasse hat der Sieg der Demokratie in der Türkei entweder eine sehr geringe Chance oder kann nur halbherzig umgesetzt werden.
Genauso, wie es um die Zuwendung der Jugend zur Arbeiterklasse bestellt ist, stehen wir noch am Anfang der Vereinigung der Arbeiter mit den öffentlich Beschäftigten und den Bauern. Darüber hinaus ist es eine wichtige Schwäche der aufstrebenden Bewegung, dass die CHP, die bis vor kurzem nie von etwas anderem als von Wahlen und Wahlurnen gesprochen hat und deren auf Wahlkreisen basierende Organisation absolut unfähig ist, das Volk einzubeziehen und ihm angemessene Organisationsformen zu bieten, vorerst weiterhin die effektive Kraft der Bewegung ist. Die Überwindung der Spontanorganisationen ist dagegen eine unabdingbare Notwendigkeit für die Dauerhaftigkeit und Entwicklung der Bewegung. Dies sind Probleme, die im Laufe der Entwicklung der Bewegung zu lösen sind, und diese Situation macht es schwierig, Vorhersagen über die Richtung der Entwicklung der Bewegung zu machen.
Es sieht so aus, als gäbe es kaum eine Aussicht auf ein Abflauen der sozialen Opposition ohne die Zerschlagung der Volksbewegung oder das Ende der Erdoğan-Herrschaft. Sowohl die Regierung als auch die bürgerliche Opposition könnten zwar eine Reihe von Kompromissen finden, aber sie befinden sich in einem Spannungszustand, in dem sie, wenn sie auf Repression bzw. Widerstand verzichten, ihr eigenes Ende erklären würden, und es ist sehr wahrscheinlich, dass weder die Regierung die Tyrannei noch die bürgerliche Opposition den Kampf aufgeben werden. Es wird nicht überraschen, wenn die Volksmassen, die aufgrund ihrer Ferne, um ihre eigenen Interessen und unmittelbaren Forderungen herum organisiert zu sein, zur Zeit unter starken bürgerlichen Einflüssen an der Bewegung teilnehmen, und insbesondere die Jugend mit ihrer breiten Teilnahme sowie ihrer Tendenz, ihren Mangel an Organisation schnell zu überwinden, sich im Laufe des Kampfes ihrer selbst, ihrer Forderungen und ihrer Macht bewusster werden, und ihre Unversöhnlichkeit sich vertiefen und verstetigen wird. Unsere Partei tut und wird ihr Bestes für eine solche ideologische und politische Verwandlung der Volksmassen tun.