Marxismus und Geschlecht

Artikel aus der Einheit & Kampf 49

In diesem Artikel möchten wir einige Fragen aufgreifen, die in aktuellen Debatten rund um das Thema Geschlecht sowohl in Deutschland als auch, soweit wir das beurteilen können, in weiteren Ländern aufkommen. Ziel ist es, den Standpunkt des Materialismus gegen verschiedene unwissenschaftliche Auffassungen zu verteidigen und einen Diskussionsbeitrag zur Haltung der Marxisten-Leninisten in den aktuellen Frauen- sowie LGBTI-Bewegungen zu leisten. (LGBTI steht dabei für „Lesbian, Gay, Bisexual, Trans- und Intersexual“).

In den letzten Jahren wird die Debatte rund um Fragen des Geschlechts immer weiter zugespitzt, insbesondere als Teil des Kulturkampfes zwischen einem reaktionär-konservativ und einem liberal-progressiven Lager in der bürgerlichen Politik. Im Kern geht es in den Diskussionen um die Frage, was Geschlecht überhaupt ist, aus deren Beantwortung sich die konkreten Politiken der verschiedenen Strömungen ableiten lassen. Es ist eindeutig, dass die realen, politischen Angriffe des konservativen Lagers in vielen Ländern sowohl Angriffe auf erkämpfte Frauenrechte, als auch die massive Einschränkungen demokratischer Rechte von LGBTI-Personen sowie einen Anstieg der Gewalt gegen diese ohnehin schon vulnerable Gruppe bedeuten. Sie sind ein beliebtes propagandistisches Instrument von insbesondere rechtspopulistischen Kräften die in einer Reihe von Ländern bedeutende Wahlerfolge erzielt haben. Die Bestärkung und Zementierung konservativer Rollenvorstellungen zwischen Mann und Frau geht einher mit Angriffen auf das Recht auf Schwangerschaftsabbruch sowie ökonomische Unabhängigkeit der Frau.

Gleichzeitig sehen wir einen eindeutigen Mangel an wissenschaftlichen, überzeugenden Gegenpositionen im linksliberal-progressiven Lager. Vielmehr findet hier seit Jahren eine Abkehr von jeglicher politischer Herangehensweise an die benannten Fragen statt und es wird sich auf einen rein kulturellen Standpunkt der Diversität von Identitäten zurückgezogen, bei dem explizit irrationale, poststrukturalistische Theorien das Grundgerüst bilden. Natürlich sind diese ideologischen Mängel auch Ausdruck des bürgerlichen Klassencharakters sowohl der aktuellen Frauen- als auch LGBTI-Bewegung, in der die proletarischen, auf materialistischem Boden stehenden Elemente noch sehr schwach sind. Der Einfluss dieser Theorien führt nicht nur dazu, dass den Angriffen auf demokratische, Frauen- und LGBTI-Rechte wenig entgegengesetzt werden kann. Ausgehend von diesen Theorien sehen wir auch Tendenzen, die Frauenfrage als untergeordnete Frage in einer allgemeinen, queeren Bewegung zu betrachten, die ihr Ziel als die Befreiung von allen unterdrückten „Identitäten“ ausgibt. Dieser Ansatz, der auf keiner materialistischen Analyse fußt, verhindert auch, dass die Ursachen von geschlechtsspezifischer Unterdrückung und ihre spezifischen Effekte für Frauen sowie LGBTI-Personen erkannt und ein fundiertes politisches Programm dagegen entwickelt werden kann. Natürlich berührt die Frage, was Geschlecht eigentlich ist, sowohl die Frauenfrage als auch die LGBTI-Frage – die heutige Vermischung beider Fragen rührt jedoch aus ideologischer Schwäche und hat für beide politischen Kämpfe negative Folgen. Je mehr sich die Angriffe auf Frauen und LGBTI-Personen weltweit mehren, die auch als Teil des allgemeinen Erstarken faschistischer Kräfte weltweit verstanden werden müssen, desto wichtiger wird auch die ideologische Klarheit in Bezug auf diese Fragen, um unseren Kampf zu stärken.

Die meisten Theorien und Auffassungen, die wir heute in der Frauen- sowie der LGBTI-Bewegung vorfinden, sind eine Reaktion auf den biologischen Determinismus. Im konservativen Lager finden wir zahlreiche biologisch-deterministische Auffassungen, die davon ausgehen, dass Mann und Frau klare, biologisch bestimmte Rollen in der Gesellschaft hätten. Frauen seien aufgrund ihrer Biologie dazu bestimmt, die Kinder zu gebären, aber auch zu erziehen, sich um den Haushalt zu kümmern und emotionale Fürsorge zu leisten. Einige Theorien gehen so weit, zu behaupten, Frauen seien nicht nur durch ihre Rolle in der Fortpflanzung, sondern auch durch ihren Körperbau, die Größe ihres Gehirns oder ihren Hormonhaushalt zur Hausfrau und Mutter bestimmt. Männer hingegen seien aus denselben Gründen als Versorger, starkes Geschlecht, Politiker und Führer vorgesehen. Diese Vorstellung, die durch religiöse und konservative Politiker und Medienschaffende heute in mehr oder weniger radikaler Weise verbreitet wird, ist offensichtlich unwissenschaftlich – genau wie beispielsweise die Rassentheorie, die bis heute von Rassisten versucht wird, biologisch zu begründen. Konservative Rollenbilder argumentieren mit einem Naturzustand, der von modernen, feministischen Vorstellungen verkannt werden würde. Dieser angebliche Naturzustand ist insb. an religiösen Vorstellungen orientiert und hält keiner auch nur flüchtigen historischen Bestandsaufnahme stand. Die monogame Einzelehe und die bürgerliche Familie sind eine historisch junge Erscheinung, deren Notwendigkeit auf einem bestimmten ökonomischen Zustand beruht. Die bürgerliche Familienvorstellung von einem Mann, der analog zur Jagdtätigkeit außer Haus das Geld eintreibt und einer Frau, die als Mutter rein auf die häusliche Sphäre und mütterliche Pflichten begrenzt bleibt, konnte und kann es für die Arbeiterklasse nicht geben. Die kapitalistische Klassengesellschaft zeichnet Tag für die Tag diese Realität. Wir gehen auf diese unwissenschaftlichen, reaktionären Vorstellungen an dieser Stelle nicht weiter ein, außer zu sagen: Gesellschaftliche Rollen lassen sich nicht einfach aus der Biologie ableiten, sondern sind Ergebnisse eines historischen Prozesses, unterscheiden sich je nach historischer Periode und sind untrennbar verbunden und letztendlich bestimmt durch die Grundlage des menschlichen Lebens, die Produktions- und Reproduktionsweise.

Der Marxismus gab uns schon vor über einem Jahrhundert das Werkzeug an die Hand, mit dem wir sowohl dem Rassismus als auch der geschlechtsspezifischen Unterdrückung auf den Grund gehen können: Den historischen Materialismus (der schon von Friedrich Engels auch auf die Rolle der Frau und der Familie direkt angewandt wurde, weswegen Clara Zetkin sein Werk „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats“ als „von grundlegender Bedeutung für den Befreiungskampf des gesamten weiblichen Geschlechts“[1] bezeichnete – dazu später mehr). Anders als der proletarischen Frauenbewegung ist der historische Materialismus dem bürgerlich-feministischen Lager, das heute die Frauen- sowie LGBTI-Bewegung dominiert, jedoch naturgemäß fremd. Die beiden gängigen Theorien rund um Geschlecht zeigen den Mangel, den dieser Umstand hervorruft, sehr deutlich. Also – was sind die gängigen Betrachtungsweisen von Geschlecht in diesen Bewegungen und wo liegen ihre Mängel?

Gibt es kein biologisches Geschlecht?

So gibt es einerseits die Strömung, die in einem Versuch der Zurückweisung des biologischen Determinismus die Existenz von zwei Geschlechtern an sich leugnet. Diese Auffassungen, größtenteils in der Queer Theory zusammengefasst, sind beheimatet im Poststrukturalismus, einer philosophischen Strömung, die die gesellschaftliche Realität selbst als konstruiert wahrnimmt und die sogenannte Dekonstruktion von Ideologien als Schlüssel der Veränderung betrachtet. Im Poststrukturalismus sind gesellschaftliche Zustände grundsätzlich nichts materiell Bedingtes, sondern Ergebnisse eines Diskurses, die von Menschen durch ihre Benennung erst konstruiert werden und entsprechend auch wieder dekonstruiert werden können. Kurzgesagt ist der Poststrukturalismus ein heute in westlichen Universitäten sehr populärer Gegenentwurf zum Marxismus (von einem seiner Begründer, Michael Foucault, 1977 folgendermaßen formuliert: „[…] wir müssen die bedeutende Tradition des Sozialismus grundlegend in Frage stellen, denn alles, was diese Tradition in der Geschichte hervorgebracht hat ist zu verdammen“[2]). Judith Butler ist eine der bedeutendsten Vertreterinnen der Queer Theory und stellt Überlegungen wie die folgende zur Diskussion: „Ist Weiblichkeit eine natürliche Sache oder eine kulturelle Performance oder ist Natürlichkeit durch diskursiv beschränkte performative Handlungen konstituiert, die den Körper durch und innerhalb der Kategorien des Geschlechts hervorbringen?“[3] Die (für den Poststrukturalismus typisch komplizierte) Frage will darauf hinaus, dass nicht nur gesellschaftliche Rollenbilder, sondern auch gleich die Biologie selbst gesellschaftlich konstruiert sei. So finden wir in feministischen Kreisen und Literatur heute Auffassungen, die ganz grundsätzlich die Vorstellung der geschlechtlichen Binarität in der Biologie zurückweisen. Zwei Geschlechter in die Biologie hineinzuinterpretieren sei Ergebnis einer sexistischen gesellschaftlichen Ordnung und hätte keine Grundlage in den biologischen Prozessen selbst.

Diese Vorstellung lässt sich jedoch sehr leicht widerlegen. Die menschliche Fortpflanzung basiert grundsätzlich auf Zweigeschlechtlichkeit. Menschen verfügen über einen doppelten Satz an Chromosomen. Diese bestehen aus DNA und enthalten die Erbinformation. Frauen haben dabei XX- und Männer XY-Chromosomen. In der Fortpflanzung kommt je ein halber Chromosomensatz des Vaters und der Mutter zusammen, was in der befruchteten Eizelle dann wieder einen doppelten Satz ergibt. Die einzigen Zellen, die nicht diploid, sondern haploid sind, also nur einen Chromosomensatz haben, sind die Keimzellen: Eizellen und Spermien. Je nachdem, welche Chromosomen im Nachkommen zusammenkommen – ein X und ein Y oder ein X und ein X – bestimmt sich das Geschlecht dieses Nachkommens. Danach bilden Menschen dann die Geschlechtsmerkmale aus, wobei vor allem die Produktion von Hormonen eine Rolle spielt, die dazu führen, welche primären (Geschlechtsteile) und sekundären (Brüste Behaarung etc…) Geschlechtsmerkmale wir ausbilden. Natürlich haben dabei nicht alle Männer gleich viel Gesichtsbehaarung und nicht alle Frauen gleich ausgeprägte Brüste. Selbst bei den primären Geschlechtsmerkmalen, also den Geschlechtsorganen, kann es Abweichungen geben. Der Begriff Intersexualität beschreibt das Phänomen uneindeutiger Geschlechtszugehörigkeit, zum Beispiel durch uneindeutige primäre oder sekundäre Geschlechtsmerkmale (früher wurden Kinder, die mit uneindeutigen Geschlechtsmerkmalen geboren wurden, in Deutschland und weiteren Ländern nach der Geburt operiert, um eindeutig einem Geschlecht zugeteilt werden zu können – eine gefährliche und für die Betroffenen folgenreiche Praxis, die von Interessensvertretungen intersexueller Personen in Deutschland einheitlich abgelehnt wird). Das (recht seltene) Phänomen der Intersexualität stellt jedoch eine Abweichung dar und ist keineswegs ein Beweis dafür (wie es teilweise herangezogen wird), dass Geschlechtlichkeit in der Biologie ein Spektrum und männlich und weiblich nur zwei Pole darauf wären.

Der grundlegende Mangel dieser Strömung ist nicht, dass er versucht, den biologischen Determinismus zurückzuweisen. Das Problem ist, dass die Queer Theory dem biologischen Determinismus rein gar nichts entgegenzusetzen hat – sie kann nicht erklären, wie biologische Unterschiede und gesellschaftliche Rollenbilder zusammenhängen, sondern wirft mit den gesellschaftlichen Rollenbildern gleich die biologischen Unterschiede mit aus dem Fenster. Im Deutschen gibt es ein Sprichwort: Das Kind mit dem Bade auszuschütten – in guten Vorsätzen also auch Erhaltenswertes zu beseitigen. Dabei stimmen die Poststrukturalisten mit dem biologischen Determinismus tatsächlich in weiten Teilen überein – denn sie teilen implizit ja die Annahme, dass wenn es biologische Unterschiede gäbe, diese zwangsläufig zu strikten gesellschaftlichen Rollenbildern und Zwängen führen müssten. Damit legt der Poststrukturalismus selbst offen, dass er vollkommen unfähig ist, zu erklären, woher geschlechtsspezifische Unterdrückung kommen könnte (und was das den Poststrukturalisten völlig fremde Phänomen Klassengesellschaft eventuell damit zu tun haben könnte). Frei von jeglicher Erklärungskraft fällt er in den Irrationalismus zurück und tritt in direkten Widerspruch zu biologischen Tatsachen, was sein Vorhaben, biologischen Determinismus zurückzuweisen, zwangsläufig unglaubwürdig macht.

Gibt es ein biologisches und ein gesellschaftliches Geschlecht?

Es gibt eine weitere Theorie, die in der Frauen- sowie LGBTI-Bewegung und auch der deutschen Sozialwissenschaft mittlerweile so weit verbreitet ist, dass ihre Hintergründe teilweise gar nicht mehr hinterfragt werden: Die Unterscheidung zwischen sex (= biologisches Geschlecht) und gender (= soziales Geschlecht). Im Gegensatz zum biologisch bestimmten sex umfasst gender die gesellschaftlichen Implikationen, die mit den Begriffen Mann und Frau einhergehen – von jeweils typischen Berufen über zugeschriebene oder tatsächliche Eigenschaften bis hin zu Identität und Selbstbild der jeweiligen Person. Die ursprüngliche Idee derjenigen, die die Unterscheidung einführten, war ebenfalls die Zurückweisung des biologischen Determinismus, also der Vorstellung, dass die gesellschaftliche Rolle von Mann und Frau durch biologische Faktoren festgeschrieben sei. Die Unterscheidung versucht, biologische Faktoren zu berücksichtigen, ihnen jedoch ihre Wirkmächtigkeit zu entziehen, indem neben das biologische Geschlecht eine weitere, davon unabhängige Kategorie tritt: Das soziale Geschlecht, das als die ausschlaggebende und identitätsstiftende Kategorie betrachtet und unabhängig von der Biologie begriffen wird. Die Trennung zwischen sex und gender ist somit eine scheinbare Lösung für die Widersprüchlichkeit, dass menschliche Identität nicht in zwei starre und biologisch determinierte Kategorien geteilt werden kann. Scheinbar ist diese Lösung deshalb, weil auch die sex-gender-Unterscheidung erstmal überhaupt nichts erklärt, sondern im Gegenteil weitere Fragen aufwirft: Einerseits sagt die strikte Trennung von sex und gender nichts über den Zusammenhang beider Kategorien aus. Andererseits kann sie nicht erklären, wie soziales Geschlecht entsteht – in der Praxis wird gender somit meistens einfach mit dem Empfinden gleichgesetzt. Eine Person kann zwar ein biologisches Geschlecht haben, aber das gender, also die Identität, bestimmt sich durch Empfinden, also das Zugehörigkeitsgefühl, das dann eben männlich, weiblich oder in ganz anderen Kategorien (z.B. nicht-binär) ausgeprägt sein kann. Und es ist ja in jeder Hinsicht nachvollziehbar, dass einige, vor allem junge Menschen heute sagen: „Ich fühle mich nicht zugehörig zu den beiden Rollenbildern, die mir in dieser Gesellschaft präsentiert werden. Wenn du mich nach meiner Identität fragst, dann werde ich dir keine binäre Kategorie nennen können“. Fakt ist, dass geschlechtliches Empfinden ein komplexer, psychischer Prozess ist. Gender versucht, für dieses Empfinden eine Kategorie zu finden, bringt aber weitere Probleme mit sich, denn: Was ist denn ein weibliches oder männliches Empfinden? Gibt es (neben biologischen Faktoren) ein weibliches oder männliches Wesen? Ist dieses Wesen angeboren, wie es die Formulierung „im falschen Körper geboren“ suggeriert, die für das Empfinden von trans-Personen verwendet wird? Indem die Kategorie gender als von der Biologie und meist auch von der Gesellschaft losgelöstes, individuelles Phänomen betrachtet wird, wird es unweigerlich zu einer idealistischen Kategorie. (Das Problem, dass Geschlecht, sei es nun biologisch oder gesellschaftlich, überhaupt den Rahmen für das Empfinden und die Identifikation bildet, ist dadurch ebenfalls nicht gelöst – teilweise wird Geschlecht sogar in seiner Bedeutung überhöht, weil es gleichbedeutend mit der gesamten individuellen Identität betrachtet wird). Somit steht man vor einer Unterscheidung in das biologische Geschlecht, das, je nach Auslegung, entweder zwei Geschlechter und intersexuelle Abweichungen davon oder eine Vielzahl von biologischen Geschlechtern zulässt, und das gesellschaftliche Geschlecht, das eine reine Identitätskategorie ist. Beide haben nichts miteinander zu tun und hängen innerhalb dieser Konstruktion auch nicht zusammen. Die mangelnde Erklärungskraft dieses Ansatzes ist offensichtlich. Zwar ist er eine verständliche Reaktion darauf, die Vielfalt menschlichen Empfindens nicht in biologisch determinierte Kategorien zu drängen. Ein politisch sinnvolles Programm, das über die Anerkennung aller Geschlechtsidentitäten hinaus auch den Ursprung der Unterdrückung erkennt und eine Perspektive gibt, bietet sie nicht. Dies hat bis heute nur der historische Materialismus zustande gebracht.

Der Ursprung der Unterdrückung der Frau

Für den historischen Materialismus ist „das in letzter Instanz bestimmende Moment der Geschichte: die Produktion und Reproduktion des unmittelbaren Lebens.“[4] So schreiben Marx und Engels, „[…] daß die Menschen, die ihr eignes Leben täglich neu machen [durch die Produktion], anfangen, andre Menschen zu machen, sich fortzupflanzen – das Verhältnis zwischen Mann und Weib, Eltern und Kindern, die Familie.“[5] Der Begriff der Reproduktion beschreibt die konkrete Schaffung und Erhaltung menschlichen Lebens. Engels folgert: „Die gesellschaftlichen Einrichtungen, unter denen die Menschen einer bestimmten Geschichtsepoche und eines bestimmten Landes leben, werden bedingt durch beide Arten der Produktion: durch die Entwicklungsstufe einerseits der Arbeit, andrerseits der Familie.“[6] Die Frage, wie die Produktion und Reproduktion organisiert sind, ist zu jedem geschichtlichen Zeitpunkt entscheidend. Sie ist die materielle Grundlage, auf der sich Moral, Gesetz, Kultur sowie in letzter Instanz auch Rollenbilder und Identitäten bilden können. Dieser historisch-materialistische Ansatz war es, der der Arbeiterbewegung erlaubte, jegliche idealistische, reaktionäre oder religiöse Vorstellung auf wissenschaftlichem Boden entgegenzutreten. Seien es Rassismus oder Sexismus, der historische Materialismus hilft uns begreifen: Diese Ordnungen sind nicht in Stein gemeißelt. Sie haben Bedingungen, unter denen sie entstehen und Bedingungen, unter denen sie vergehen können. Um diese zu schaffen, müssen wir sie verstehen. Friedrich Engels und Clara Zetkin waren es, die in der deutschen sowie internationalen Arbeiterbewegung schon früh die Frauenfrage aufgriffen und historisch-materialistisch den Ursprung der Unterdrückung der Frau untersuchten. Innerhalb dieser Betrachtungen der Frauenfrage bieten sich auch wertvolle Anhaltspunkte für die Frage nach Geschlecht allgemein. Zwar betrachteten weder Engels noch Zetkin explizit von Mann und Frau abweichende Geschlechtsidentitäten. In ihren Abhandlungen zur Frauenfrage lässt sich aber die grundsätzliche Betrachtungsweise des historischen Materialismus in Bezug auf die Genese und Erhaltung von Geschlechterrollen erkennen. Dabei spielt natürlich das biologische Geschlecht eine Rolle, jedoch zeigt uns der historische Materialismus, dass dieses keineswegs zwangsläufig zu unterdrückenden Rollenbildern führt, sondern warum die Gesellschaft und ihre Funktionsweise entscheidend für Rollenbilder sowie geschlechtliches Empfinden, Unterdrückung und Befreiung sind.

Für die Rolle der verschiedenen Geschlechter in der Gesellschaft ist die Frage nach der Reproduktion besonders entscheidend. Hier kommt auch die Biologie ins Spiel. Denn es ist zwar nicht so, wie von biologisch-deterministischen Vorstellungen behauptet, dass die biologischen Unterschiede alle weiteren gesellschaftlichen Aufgaben von Mann und Frau bestimmen. Natürlich gibt es biologische Unterschiede – ihr Ausmaß wird jedoch von den Vertretern genannter Anschauungen vollkommen übertrieben (so sind die durchschnittlichen Unterschiede zwischen Männern und Frauen, die von biologischen Deterministen hervorgehoben werden, z.B. in der Größe des Gehirns oder der Muskelmasse, teils geringfügiger als die Unterschiede zwischen einzelnen Frauen oder einzelnen Männern). Aber es gibt natürlich einen Unterschied, der sich nicht leugnen lässt und für die historische Entwicklung der Geschlechterrollen kaum unterschätzbare Auswirkung hat: Die Rolle der Geschlechter in der Reproduktion. Es sind die Frauen, die eine Hälfte der Gesellschaft, die die Kinder neun Monate lang im Bauch tragen, gebären und sich zumindest in der frühen Phase der Kindheit um sie kümmern (d.h. stillen) müssen. Diese Tatsache hat sich in keiner Gesellschaft bisher aufgehoben und hat, je nach Gesellschaftsform, zu einer mehr oder weniger strikten Aufgabenteilung der Geschlechter geführt. Und sie wird sich auch in zukünftigen Gesellschaften, egal wie Produktion und Reproduktion organisiert sind, nicht aufheben. Entscheidend für die Geschlechterrollen ist also, wie die gesellschaftliche Produktion und insbesondere die Reproduktion organisiert sind und ob diese Art der Organisation systematisch zu Unterdrückung und Zwang führt oder nicht.

Die erste explizit historisch-materialistische Studie zu dieser Frage nahm Engels in „Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats“ vor. Hierin widmet er sich ausführlich der Darstellung der verschiedenen Familienformen in der Urgesellschaft und ihrer Auswirkung auf die Stellung der Frau. Die Arbeitsteilung in der Urgesellschaft ist nach Engels eine naturwüchsige, die zwar auf den Positionen von Mann und Frau im Fortpflanzungsprozess beruht, jedoch keineswegs so strikt oder mit nachteiligen Rollenbildern verbunden ist wie heute. Durch die niedrige Entwicklung der Produktivkräfte war im Urkommunismus kein ökonomischer Bereich, weder in der Produktion (wo tendenziell der Mann eine wichtigere Rolle einnahm) noch in der Reproduktion (wo tendenziell die Frau eine wichtigere Rolle einnahm), im Stande, ein Mehrprodukt abzuwerfen. Alle Mitglieder der Gesellschaft erarbeiteten sich kollektiv die materielle Lebensgrundlage. Engels schließt daraus, dass auch die Rolle der Frau in der Urgesellschaft eine andere gewesen sein muss als heute. Solange das Privateigentum und das Aneignen von Reichtümern noch keine Rolle spielten, brachte die naturwüchsige Arbeitsteilung keinem der beiden Geschlechter einen bedeutenden Nachteil. Engels nennt das Aufkommen des Privateigentums insofern bekannterweise die „welthistorische Niederlage des weiblichen Geschlechts“[7].

Mit der Herausbildung des Privateigentums und der Klassengesellschaft verändert sich sowohl die Organisation der Produktion als auch der Reproduktion grundlegend. Die Produktion dient seither der Schaffung des Mehrproduktes, das privat angeeignet wird. Wir sehen jedoch, dass natürlich auch die Reproduktion untrennbar mit der Produktion verbunden ist und die Rolle der Frau, die in dieser Reproduktion unweigerlich eine besondere Rolle spielt, somit ebenfalls in der Klassengesellschaft anderen Charakter bekommt. Auch die Reproduktion wird den Notwendigkeiten der Klassengesellschaft unterworfen. Da die Reproduktionsarbeit kein Mehrprodukt abwirft, die Gesellschaftsordnung von nun an jedoch auf Privateigentum beruhte, verlor die Frau ihre bisherige Stellung: „Die Führung des Haushalts verlor ihren öffentlichen Charakter. Sie ging die Gesellschaft nichts mehr an. Sie wurde ein Privatdienst; die Frau wurde erste Dienstbotin, aus der Teilnahme an der gesellschaftlichen Produktion verdrängt“[8].

Halten wir fest: Es gibt biologische Unterschiede, diese sind aber nicht, wie die biologischen Deterministen behaupten, hauptsächlich entscheidend. Es ist die Gesellschaft und explizit die ökonomische Grundlage der Gesellschaft, die Art, wie Produktion und Reproduktion organisiert sind, die den Geschlechtern jeweils einen Platz in der Gesellschaft zuweist und für die Frau explizit zu geschlechtlicher Unterdrückung führt. Wie sich die biologischen Faktoren in eine geschlechtlich zugewiesene Aufgabe und somit Rolle übersetzen wird also letztendlich bestimmt durch die ökonomischen Verhältnisse der gegebenen Gesellschaft. Die Veränderung der ökonomischen Verhältnisse war es auch, die überhaupt zur modernen Frauenfrage geführt hat, wie Clara Zetkin anschaulich darlegt, und sie sind es auch, die grundlegend verändert werden müssen, um Geschlecht nicht mehr zu einer Kategorie der Unterdrückung und des Zwangs zu machen. Dass diese historisch-materialistische Anschauung nicht nur in der Lage ist, zu erklären, unter welchen Bedingungen die Unterdrückung des weiblichen Geschlechts entstanden ist, sondern auch die Perspektive für ihre Beseitigung aufzeigt, wird besonders in Clara Zetkins Ausführungen zur Frau im Kapitalismus und im Sozialismus deutlich. 1889 formulierte Zetkin: „Die Frauenemanzipationsfrage ist ein Kind der Neuzeit, und die Maschine hat diese geboren“. Mit der Industrialisierung wurden einerseits die Aufgaben des Haushalts vereinfacht, andererseits wurde im Kapitalismus die Arbeiterfrau, zunächst aus finanzieller Not, in Form der Lohnarbeit in den Produktionsprozess katapultiert. Der Kapitalismus und das Aufkommen der Proletarierin waren es, die die Trennung der Arbeit nach Geschlecht und die grundlegend verschiedenen Positionen der Geschlechter in der Familie und in der Gesellschaft in Frage stellten. Denn wenn die Frau neben dem Mann gleichermaßen beteiligt am Produktionsprozess ist, dann ist es auch nicht weit zur Frage nach gleichen politischen Rechten: „Es konnte früher wohl von einer gradweisen Hebung der Lage der Frau in dem oder jenem Sinne die Rede sein, aber nicht von einer Frauenfrage im modernen Sinne des Wortes, von einer Erschütterung der ganzen Grundlage ihrer Stellung […]“ Der Kapitalismus schafft somit erst die Grundlage für die gesellschaftliche Befreiung der Frau. Engels schreibt: „Erst die große Industrie unsrer Zeit hat ihr – und auch nur der Proletarierin – den Weg zur gesellschaftlichen Produktion wieder eröffnet.“[9] Auch die Notwendigkeit der Ehe zum Vererben von Eigentum hebt sich im Proletariat, der besitzlosen Klasse, auf. (Zetkin nimmt auch Bezug auf bis heute herrschende Forderungen aus dem konservativen Lager, die geschlechtliche Arbeitsteilung innerhalb der bürgerlichen Familie wiederherzustellen, in der die Frau eine reine Hausfrau wäre: Diese sei reaktionär und die reine Hausfrau in der kapitalistischen Gesellschaft ein „Anachronismus“.[10]) Der Kapitalismus schafft zwar die erste Grundlage der Befreiung der Frau. Doch erst im Sozialismus, in dem sowohl Produktion- als auch Reproduktion nicht der Erzeugung eines Mehrproduktes zur privaten Aneignung, sondern der Befriedigung der Bedürfnisse aller unterworfen sind, wird auch die Frau als Teil der gesamten Arbeiterklasse befreit sein und die Trennung von Produktion und Reproduktion aufgehoben werden.

Historischer Materialismus und Geschlecht

Was sagt uns der historische Materialismus und seine Abhandlung der Frauenfrage über Geschlecht allgemein? Erst einmal erkennt er unbedingt an, dass es biologische Tatsachen gibt, ein weibliches und ein männliches Geschlecht, die in der Fortpflanzung einen bestimmten Platz einnehmen. Es ist jedoch die Gesellschaft und ihre Organisation, die Rollenbilder schafft, abhängig von den ökonomischen Notwendigkeiten. Es gibt heute einen ganzen Katalog an angeblich weiblichen und männlichen Eigenschaften – Zärtlichkeit, Fürsorge, Naivität für Frauen, Führungsgeist, Stärke und Härte für Männer. Diese Rollenbilder haben sich seit dem Bestehen der Klassengesellschaft mehr oder weniger ähnlich erhalten, da es in jeder Klassengesellschaft die Trennung von Produktion- und Reproduktion gab – wir sehen jedoch auch in den verschiedenen Klassengesellschaften Unterschiede und Abweichungen, die sich jeweils in den Schranken der jeweiligen Gesellschaftsordnung bewegen. Und es gab natürlich immer Menschen, die von diesen Rollenbildern abwichen – diese sind nämlich nicht natürlich oder gottgegeben, sie liegen nicht im Wesen des jeweiligen Geschlechts, sondern sind gesellschaftlich geprägt. So wird beispielsweise anhand von Zetkins Argumentation deutlich, wie grundlegend sie die Änderung der Rolle der Frau einschätzt, die mit dem Kapitalismus begann und mit dem Kommunismus beendet würde. Mit der Veränderung der Stellung der Frau im Produktionsprozess ändert sich nicht nur die Sicht auf die Frau, sondern auch das eigene Empfinden. Zetkin attestiert den Frauen der Zukunft allein für das Säuglingsalter die Rolle der Erzieherin und Pflegerin – die Zeit, wo diese Aufgabe tatsächlich natürlich bestimmt sei. Darüber hinaus ließe sich nicht sagen, ob Frauen beispielsweise bessere Erzieherinnen oder Lehrerinnen seien als Männer, ob sie überhaupt irgendeine biologische Prädestinierung hätten, die sie in eine gesellschaftliche Aufgabe drängt. Sie bezieht somit direkt Stellung zu biologisch-deterministischen Vorstellungen, beispielsweise wenn es um die angeblich natürliche Bestimmung der Frau als Erzieherin geht: „[…] die in der Gesellschaft produzierende Frau wurde ihrem „natürlichen“ [Anführungszeichen von Zetkin!] Berufe entzogen, der überhaupt nur so lange natürlich war, als er sich mit den ökonomischen Grundbedingungen deckte.“[11] Der historische Materialismus kann nicht von einem männlichen, weiblichen oder (in Bezug auf die Diskussion rund um gender) nicht-binären Wesen ausgehen, sondern er erkennt, dass der Mensch in erster Linie Mensch ist, sein Empfinden allgemein sowie sein geschlechtliches Empfinden sich psychologisch ständig entwickeln und dass diese Entwicklung im Rahmen seiner gesellschaftlichen Aufgaben und Tätigkeiten entsteht. Wenn wir also nicht von einem idealistischen männlichen, weiblichen oder auch nicht-binären gender ausgehen, das sich unabhängig von Zeit und Gesellschaft Bahn bricht, sondern allein von Geschlechterrollen, deren Grenzen durch die jeweilige Gesellschaft gesetzt sind und somit auch aufgebrochen werden können, dann wird auch deutlich, welche Bedeutung der Sozialismus für die Befreiung von Geschlechterrollen hat.

Diese Betrachtung hat starke Implikationen nicht nur für die Befreiung der Frau, sondern auch für die politischen Forderungen bezüglich abweichender Geschlechtsidentitäten. Schon vor über 100 Jahren wurde für Zetkin deutlich, dass die Rollenbilder der kapitalistischen Gesellschaft unweigerlich in einen Widerspruch geraten und zur Frauenfrage im eigentlichen Sinne führen würden. Jetzt sehen wir heute, dass diese Rollenbilder keineswegs aufgebrochen sind, sondern sich vor allem in westlichen Gesellschaften in immer weitere Widersprüche verstricken, die durch eine allumfassende Propaganda in Medien umso einflussreicher wird. Die explizite Vermarktung von geschlechtsspezifischen Produkten und ihr psychologischer Einfluss auf das Selbstbild von jungen Menschen, die durch Medien und Werbung unweigerlich geschaffene Übersexualisierung und der schreiende Widerspruch so vieler unterschiedlicher Erwartungen und Anforderungen an die beiden Geschlechter führt heute unweigerlich zu einer vermehrten nicht-Identifikation und dem Wunsch, sich vom binären Geschlechtersystem und seinen Schranken für die Entfaltung abzukehren. Innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft, im akademischen Bereich und innerhalb des Spektrums der bürgerlichen Ideologie erhält dieser Drang Ausdruck in Form von poststrukturalistischen, idealistischen Vorstellungen, die die Gleichheit und individuelle Entfaltung der Identität zum Ziel haben. Aufgrund der Schwäche der Arbeiterbewegung und somit der proletarischen Frauenbewegung sowie der damit zusammenhängenden, relativen Unbekanntheit von materialistischen Erklärungen dafür, wie Geschlechterrollen überhaupt zustande kommen und wie sie entsprechend bekämpft werden müssen, werden die Frauen- sowie LGBTI-Bewegung heute zunehmend zu einer Bewegung, die im Kern nichts weiter als Identitätspolitik betreiben kann.

In Deutschland wird beispielsweise der Internationale Frauenkampftag, der 8. März, heute beispielsweise vielerorts als „FLINTA-Tag“ begangen (FLINTA meint Frauen, Lesben, nicht-binäre-, inter-, trans- und agender-Personen), in dem alle willkommen sind, die sich den entsprechenden Geschlechtern zugehörig fühlen, Männer jedoch explizit von der Teilnahme ausgeschlossen werden. Der Begriff FLINTA ist dabei ein explizites Symptom für die benannte Vermischung verschiedener Fragen, der ihnen die ernsthafte politische Betrachtung verwehrt. In dieser Vermengung werden all diese Themen und besonders der Frauenkampf geschwächt, der zu einem von verschiedensten Buchstaben wird (abgesehen davon, dass dieser Begriff der absolut erschlagenden Mehrheit der Menschen (und Frauen) in Deutschland nichts sagt). Diese Begriffsverschiebung geht Hand in Hand mit einer Degradierung der Proteste zu reinen Demonstrationen der Diversität, die nur empowern sollen, anstatt politische Forderungen zu stellen, die heute bitter nötig wären. Die heutige Stärke der poststrukturalistischen Theorien und ihr Fokus auf Identität muss ebenfalls in Verbindung gebracht werden mit kapitalistischen, neoliberalen Ideologien und lässt sich nicht ohne Grund in vielen Fällen problemlos in Diversity-Konzepte von Unternehmen integrieren, in denen das Benefit der persönlichen Entfaltung die Produktivität der Belegschaft fördern soll. Und nicht zuletzt muss der Klassencharakter dieser Anschauungen deutlich werden, wenn sie immer häufiger gegen materialistische Betrachtungsweisen ins Feld geführt werden. So wird in den benannten Bewegungen Kräften, die auf den Begriff „Frau“ bestehen, weil er sowohl politisch unverzichtbar als auch die zentrale Analysekategorie ist, biologischer Determinismus vorgeworfen. Materialistische Ansätze sind allgemein als „queerfeindlich“ in Verruf geraten und werden ideologisch und politisch bekämpft. Dabei gibt uns explizit nur der historische Materialismus die Mittel an die Hand, um sowohl die Frauenfrage wissenschaftlich und politisch zu beantworten (wie es die proletarische Frauenbewegung historisch getan hat, was eigene Betrachtungen verdient) als auch den Weg für die weitestgehende Befreiung von Geschlechterrollen an sich aufzuzeigen, der für diejenigen gerade so wichtig wäre, die sich von ihnen eingeschränkt sehen (was in der heutigen Gesellschaft nicht nur nicht-binäre und trans-Personen sein dürften, sondern ein weitaus größerer Teil der Gesellschaft). Es muss darum gehen, für gesellschaftliche Bedingungen zu kämpfen, in denen Geschlecht eben nicht mehr den Rahmen bildet, in dem Menschen sich entfalten können oder nicht. Es bringt nichts, für abweichendes Empfinden Kategorien zu benennen und dabei stehenzubleiben, dass all diese Kategorien akzeptiert werden müssen – dies setzt die materiellen Ursachen, die in unserer Gesellschaft zu Unterdrückung führen, nicht nur nicht außer Kraft, es lenkt von ihnen ab. Dagegen ist ein materialistisches Verständnis der Unterdrückung der Frau und die Stärkung der Frauenbewegung auf dieser Grundlage zugleich der Schlüssel für die Befreiung von Unterdrückung aufgrund von Geschlecht und Geschlechterrollen überhaupt und deshalb nicht in einer allgemeinen Bewegung zur „Befreiung der Geschlechter“ unterzuordnen, sondern als eigenständige und die Hälfte der Arbeiterklasse umfassende Bewegung mit ihren entsprechenden Forderungen zu behaupten.

Die politisch-programmatischen Grundlagen der proletarischen Frauenbewegung zeigen jedoch den Weg auf, wie Rollenbilder und somit auch der damit einhergehende Zwang in unserer Gesellschaft grundlegend verändert werden können: Die bürgerliche Familie wird nicht mehr, wie im Kapitalismus, eine ökonomisch notwendige Einheit sein, in der die Reproduktionstätigkeit stattfindet und die den Geschlechtern klare Rollen im Produktionsprozess zuweist. Die Erziehungs- und Sorgearbeit wird, wie die gesamte Produktion- und Reproduktion, weitestgehend vergesellschaftet (was im übrigen auch positive Folgen für diese Bereiche selbst hat, da Bereiche wie Erziehung, aber auch Lebensmittelversorgung etc… als Tätigkeit kollektiviert, professionalisiert und auf einem höheren Niveau stattfinden können, wenn sie gesellschaftlich organisiert werden. Heißt: es muss nicht jede einzelne Mutter eine pädagogische Ausbildung genossen haben, damit Kinder eine qualitativ hochwertige Erziehung genießen, und nicht jeder Haushalt muss allein drei Mahlzeiten am Tag produzieren, was haushaltsübergreifend viel produktiver organisiert werden kann). Die Ehe verliert ihren Charakter als bindender Vertrag (wie schon in der jungen Sowjetunion, wo die Scheidung als erstes auf der Welt liberalisiert wurde) – sie ist im Sozialismus auch als Einheit zur Vererbung von Privateigentum nicht mehr notwendig. Es ist wichtig, zu verstehen, wie zentral diese Forderungen nicht nur für die Befreiung der Frau sind, sondern auch für LGBTI-Personen. Weitere Forderungen der proletarischen Frauenbewegung sind politische, aber insbesondere soziale Gleichstellung der Geschlechter, verwirklicht in der Form von gleichem Lohn für gleiche Arbeit. Dies bedeutet auch soziale Absicherung und ökonomische Unabhängigkeit, die sowohl für Frauen als auch LGBTI-Personen heute an vielen Stellen fehlt und zu Abhängigkeit und Gewalt führt. Es ist die Einsicht, dass die Geschlechterrollen, die zu Unterdrückung führen, in den Produktionsverhältnissen (und nicht in der Biologie begründet sind), die es uns auch heute ermöglicht und weiter ermöglichen muss, politische Forderungen zu formulieren, mit denen die ökonomischen Grundlagen für die Geschlechterrollen verändert werden. Die Stärke von den in diesem Artikel benannten, bürgerlichen Theorien ist ein expliziter und direkter Ausdruck des bürgerlichen Klassencharakters dieser Bewegungen heute, der von Marxisten-Leninisten bewusst zurückgedrängt werden muss. Dabei befindet sich der Materialismus gegenüber den Fragen von Geschlecht und Befreiung nicht in einer rechtfertigenden Position, sondern muss diejenigen anprangern, die die Ursachen von Unterdrückung verschleiern wollen und diejenigen gewinnen, die sich von ihr befreien wollen.


[1] Zetkin, Clara: Friedrich Engels. In: Ausgewählte Reden und Schriften, Band 1, Berlin 1957, S. 82.

[2] Foucault, Michel: Folter ist Vernunft. In: Schriften in vier Bänden, Band 3, Frankfurt am Main 2003, S. 514.

[3] Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt am Main 2014, S. 9.

[4] Engels, Friedrich: Der Ursprung der Familie, des Privateigenthums und des Staats. In: Marx-Engels-Werke, Band. 21, Berlin 1975, S. 27.

[5] MEW 3, S. 29

[6] Engels, Friedrich: Der Ursprung der Familie, des Privateigenthums und des Staats, S. 28.

[7] Engels, Friedrich: Der Ursprung der Familie, des Privateigenthums und des Staats. In: Marx-Engels-Werke, Band. 21, Berlin 1975, S. 61.

[8] Engels, Friedrich: Der Ursprung der Familie, des Privateigenthums und des Staats. In: Marx-Engels-Werke, Bd. 21, Berlin 1975, S. 75.

[9] MEW 21, S. 74.

[10] Zetkin, Clara: Die Arbeiterinnen- und Frauenfrage der Gegenwart. In: Schippe, Max (Hrsg.): Berliner Arbeiterbibliothek, Bd. 3, Berlin 1889, S. 6.

[11] Ebenda, S. 27.